Das Stromnetz steht unter Stress, der Erneuerbaren-Ausbau bringt es an seine Grenzen. Ein Besuch bei APG.
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Nur eine Handvoll Menschen hat hier Zutritt. Sie tragen große Verantwortung. Ihre Entscheidungen haben weitreichende Auswirkungen auf alle Lebensbereiche. Sie stellen sicher, dass Züge fahren, Fließbänder laufen, Bankomaten Geld ausgeben, Gasthermen anspringen und Beatmungsgeräte Patienten mit Sauerstoff versorgen.
Ihr Arbeitsweg führt sie an den äußersten Südrand der Stadt. Ihr Arbeitsplatz ist mit Stacheldraht, Kameras und Schiebetor gesichert. Regen prasselt auf das Dach des abgerundeten Flachbaus. Dahinter erheben sich Hochspannungsleitungen. Ein Windrad dreht sich stoisch. Der Verkehr der Schnellstraße braust vorbei. Wiesen und Felder umgeben das futuristische Gebäude. Hier befindet sich die Steuerzentrale des Stromnetzbetreibers Austrian Power Grid (APG). Alle Informationen des österreichischen Stromnetzes werden hier gebündelt. Bei Tahir Kapetanovic laufen alle Fäden zusammen.
Kapetanovic, kurze graue Haare, blauer Anzug und karierte Krawatte, ist Leiter der APG-Steuerzentrale. Besser passt allerdings die englische Berufsbezeichnung "Head of National Control Centre". Sie verleiht der Wichtigkeit seiner Position noch mehr Ausdruck. "Das ist eigentlich eine rote Zone", sagt Kapetanovic vor dem Betreten einer Sicherheitsschleuse. In den Kontrollraum dürfen nur wenige Mitarbeiter. "Hier ist das Nervenzentrum der Stromversorgung Österreichs", sagt er.
Das Stromnetz darf nicht aus dem Takt kommen
Ein Pult mit Dutzenden Bildschirmen und Telefonen bildet ein Halbrund. Es könnte als Kommandobrücke eines James-Bond-Bösewichts herhalten. Kapetanovic steht vor einer acht Meter breiten und 2,30 Meter hohen Videowand. Es sieht aus wie ein riesiger digitaler Schaltkreisplan. Grüne und rote Quadrate leuchten. Vertikale und horizontale Linien verbinden sie. Pfeile zeigen Richtungen an. Und Zahlen. Hunderte Zahlen, die sich laufend ändern. Die Videowand zeigt alle Höchstspannungsleitungen und Umspannwerke in Österreich.
Elektrische Spannung wird über mehrere Ebenen transportiert. Strom aus einem Wasserkraftwerk etwa gelangt über Leitungen zu einem Umspannwerk und von dort zu den Verbrauchern. Umspannwerke verbinden die verschiedenen Ebenen und wandeln die Spannung um. Um den Strom über weite Strecken möglichst verlustfrei zu transportieren, braucht es hohe Spannungen bis zu 400.000 Volt. Das ist mehr als das 1800-fache der Spannung in unseren Steckdosen. Die Zahlen auf der Videowand verraten, ob die Spannung an einer Leitung gerade steigt oder fällt. "Es ist immer etwas abgeschaltet. Das schwächt das System. Ziel ist es, das so viel wie möglich am Netz in Betrieb ist", sagt Kapetanovic. Beim Betrieb das Netzes gilt das Prinzip n-1. Fällt zum Beispiel eine Leitung oder ein Transformator aus, wird das Gesamtsystem nicht gefährdet.
Die APG, eine 100 prozentige Tochter des Verbund-Konzerns, ist gesetzlich verpflichtet, für ein sicheres und stabiles Stromnetz zu sorgen. Die Steuerzentrale zählt zur kritischen Infrastruktur Österreichs. Würden Terroristen sie angreifen, das Bundesheer und Polizei wären innerhalb kürzester Zeit mit Hubschraubern und Einsatzkräften vor Ort - erst am vergangenen Mittwoch wurde dieser Ernstfall geübt.
Gefahr lauert aber auch im virtuellen Raum. Hacker haben es in der Vergangenheit immer wieder auf die Energie-Infrastruktur abgesehen. In Deutschland soll eine russische Hackergruppe jahrelang das Stromnetz ausspioniert haben. Die APG habe regelmäßig mit Cyberangriffen zu tun, sagt Unternehmensprecher Christoph Schuh. Mehr will das Unternehmen dazu nicht sagen.
Vier bis fünf Mitarbeiter überwachen an den Bildschirmen die Stromleitungen in Echtzeit. Sie sind Herr über 65 Umspannwerke und sehen, wenn es ein Problem gibt an einem der 12.000 Strommasten. Sie schalten Leitungen ab, wenn Bauarbeiten oder Reparaturen durchgeführt werden. Die Mitarbeiter achten auf ein Gleichgewicht im Netz. Denn Stromerzeugung und Stromverbrauch müssen sich stets die Waage halten. Das Netz braucht eine Frequenz von 50 Hertz. Sonst kommt es aus dem Takt. Und dann kann es brenzlig werden.
Wie etwa am 8. Jänner 2021 um 14:04 Uhr. Ein hoher Stromfluss führte zu einer Überlastung in einem kroatischen Umspannwerk. Der Ausfall löste eine Kettenreaktion aus. 14 Leitungen in mehreren Ländern fielen aus. Das europäische Stromnetz war zweigeteilt: Auf der einen Seite fiel die Stromfrequenz, auf der anderen stieg sie an. "In den ersten Millisekunden reagierten die technischen Systeme automatisch. Die Mitarbeiter reagierten nach ein paar Sekunden", erklärt Kapetanovic. Kraftwerke wurden aktiviert, große Verbraucher abgeschaltet. Um 15:08 Uhr war der Spuk vorbei. Der Normalzustand war wieder hergestellt.
Österreich ist wichtiger Knotenpunkt in Europa
Vieles im Stromnetz ist digitalisiert. Umspannwerke brauchen kein Personal mehr. Sie werden aus der Ferne gesteuert. Leitungen werden per Mausklick zu- oder abgeschaltet. Doch ohne menschliches Know-how geht es auch heute nicht. Man würde die Menschen, die hier arbeiten, gerne fragen, wie es ihnen mit dieser Verantwortung geht. Aber sie sind nicht da. Der Kontrollraum ist leer.
Die Stromnetze werden rund um die Uhr überwacht. Die Tagschicht arbeitet allerdings an einem zweiten, geheimen Standort. Um eine Ansteckung mit Covid zu vermeiden, haben sie keinen Kontakt zur Nachtschicht, die heute Abend hier in Wien-Favoriten zum Dienst antritt.
Die Mitarbeiter in der Steuerzentrale könnten für längere Zeit sogar autark arbeiten. Für den Katastrophenfall stehen Feldbetten, Lebensmittel und Hygieneartikel bereit. Ein Diesel-Generator versorgt die Zentrale im Notfall mit Strom. "Wir müssen diese Menschen besonders schützen und unterstützen", sagt Kapetanovic. Wenn der Leiter von seinen Kollegen spricht, schwingt immer eine große Portion Stolz mit. Nur 18 Mitarbeiter haben das Wissen und die Fähigkeit, in der Steuerzentrale zu arbeiten. Die Ausbildung dauert drei Jahre. Die Prüfung findet im Haus statt. Die Mitarbeiter in der Steuerzentrale brauchen technisches Wissen und müssen extrem stressresistent sein. Wie ein Pilot oder ein Chirurg müssen sie innerhalb von Sekunden die richtige Entscheidung treffen. Muss eine Stromleitung ab- oder zugeschaltet werden? Wo im Netz fehlt es an Energie? Wie bekomme ich wieder Balance in das Netz?
Die Balance muss allerdings in ganz Europa herrschen. Denn der Strom kennt keine politischen Grenzen - wie der Störfall vom Jänner 2021 gezeigt hat. Die europäischen Stromnetze hängen zusammen. Österreich ist ein wichtiger Knotenpunkt im europäischen Netzverbund ENTSO-E (European Network of System Operators of Electricity). Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss der Netze von 35 europäischen Ländern. Man sieht auf der Videowand deshalb auch Leitungen nach Deutschland, Slowenien, Ungarn und in die Schweiz. "Österreich hat wie kein anderes Land in Europa eine sehr komplexe Nachbarstruktur", sagt Kapetanovic. Kommt es in benachbarten Ländern zu größeren Ausfällen, dann schlägt auch im Kontrollraum der APG der Alarm.
So hatte auch Russlands Überfall auf die Ukraine Auswirkungen auf die europäischen Stromnetze. Ursprünglich wollte die Ukraine im Februar testen, wie gut sein Stromnetz im "Inselbetrieb", also abgekoppelt von Russland und Belarus, funktioniert. Aus der Übung wurde mit dem Einmarsch russischer Soldaten plötzlich ein Ernstfall. Um das ukrainische Netz zu stabilisieren, wurde es mit dem kontinentaleuropäischen Netz "not-synchronisiert". Seit Anfang März helfen die europäischen Länder unter anderem, die Atomkraftwerke der Ukraine zu stützen. "Die Ukraine hat das Problem, das viel produzierter Strom im Land nicht verbraucht werden kann, weil Fabriken stillstehen", sagt Kontrollraum-Leiter Kapetanovic.
Der Krieg in der Ukraine hat Österreichs seine Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen deutlich vor Augen geführt. Beim Strom kann sich Österreich heute schon zu fast 70 Prozent mit grüner Energie selbst versorgen. Doch bis zu den 100 Prozent ist es ein hürdenreicher Weg. Denn es braucht nicht nur einen massiven Zubau von Windrädern, Photovoltaikanlagen und Wasserkraftwerken, sondern auch einen raschen Netz- und Leitungsausbau. "Wir haben derzeit nicht ausreichend Leitungen von West nach Ost, zum Beispiel um die stärkeren Windkraftkapazitäten der nächsten Jahre vollständig aus dem Osten nach Westen zu transportieren", sagt Kapetanovic. In Zukunft wird es Regionen geben, die einen Überschuss an grünen Strom produzieren, wie etwa das Burgenland oder das Weinviertel. Der Strom aus den dünn besiedelten Gebieten muss aber in die Ballungsräume transportiert werden.
Langwierige Genehmigungen hindern Ausbau
Kapetanovic ortet ein Problem bei den Genehmigungen von Großanlagen - nicht nur in Österreich, sondern in ganz Europa. "Die Verfahren dauern viel zu lange. Großprojekte sind unter zehn Jahren kaum abwickelbar."
Die 380kV-Leitung bei Salzburg ist ein gutes Beispiel dafür. Jahrelang wurde gestritten, Im Frühjahr 2019 hat das Bundesverwaltungsgericht schließlich alle Beschwerden abgewiesen und das Mega-Projekt genehmigt. Mehr als 300 der 450 Masten vom letzten Teilstück stehen bereits. 2025 soll die Leitung in Betrieb gehen.
Windkraft, Sonnenenergie und Wasserkraft sind volatil. Sie produzieren mehr Energie, wenn starker Wind bläst oder Flüsse viel Wasser führen - sie richten sich aber nicht nach den Verbrauchern. Auch das ist eine Herausforderung für die Stromnetze. Die Steuerzentrale wird deshalb von der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) und anderen Instituten mit aktuellen Wetterdaten versorgt. "Die kurzfristige Vorschau für die nächsten Tage ist entscheidend. Für morgen wissen wir zu fast 90 Prozent, wie und wann der Wind wehen wird", sagt Kapetanovic. Wird mehr Windenergie produziert, als gebraucht wird, wird der Überschuss an der Strombörse vermarktet. Eine Software erledigt dies automatisch.
Angespannte Lage in den europäischen Netzen
Im Winter liefern Windräder und Solarmodule weniger Energie als im Sommer. 16 Prozent des Strombedarfs wird importiert, 22 Prozent stellen heimische Gaskraftwerke bereit. Sie können innerhalb von Sekunden zugeschaltet werden und Strom erzeugen. Heuer mussten die Mitarbeiter im Kontrollraum bis Ende September bereits an 194 Tagen (siehe Grafik) in das Stromnetz eingreifen. Diese "Redispatch"-Maßnahmen kosteten bis Ende Oktober rund 81 Millionen Euro.
Generell ist die Lage für die europäischen Stromnetze derzeit angespannt. Viele Flüsse führen Niedrigwasser, in Frankreich sind viele Atomkraftwerke ausgefallen. Vor Kurzem führte die APG im Auftrag der Regierung einen Stresstest durch, wie die Stromversorgung im Winter sichergestellt werden kann. Dabei wurden verschiedene Szenarien durchgespielt. Fest steht: Österreich ist aufgrund voller Gasspeicher und der Netzreserve gut vorbereitet. Dennoch kann es zu Engpässen kommen. "Es kann schon sein, dass es aufgrund von außergewöhnlichen Kälteperioden im Winter zu Situationen kommt, wo wir zu wenig Strom haben werden", sagt Kapetanovic.
Zurück im Kontrollraum. Es ist ruhig. Die Zahlen auf der Videowand wechseln ständig. Spannungen fallen und steigen. Das Netz ist stabil. Es versorgt Bankomaten, Züge, Gasthermen und Beatmungsgeräte mit Strom. Dafür sorgt eine Handvoll Menschen. Sie sind die Hüter der Netze.