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Im Niemandsland von Bessarabien

Von Wolfgang Weitlaner

Reflexionen
Mitten in einer Steppe steht die weltweit größte Steinstatue eines Schafhirten, die auf eine Siedlung und ein Weingut verweist.
© Wolfgang Weitlaner

Der ukrainische Landesteil ist eine vergessene Region mit vielfältigen Problemen. Eine Erkundung.


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Südwestlich der Metropole Odessa, nördlich der Donau, erstreckt sich der ukrainische Teil Bessarabiens. Seit vielen Jahren fristet dieser Teil des Landes ein Schattendasein. Dabei ist diese Region auch touristisch alles andere als langweilig. Zu den größten Sehenswürdigkeiten zählt die Akkerman-Festung in Bilhorod-Dnistrovskyi, die mit ihrer imposanten, zwei Kilometer langen Befestigungsmauer und 26 erhaltenen Wehrtürmen zu den größten des Landes gehört.

Zudem gibt es zahlreiche Naturschönheiten wie etwa Vylkove mit seinen weitläufigen Kanälen im nördlichen Donaudelta, ausgedehnte Seenplatten im Dreiländereck zu Moldau und Rumänien sowie die endlosen Steppen, die an Großlandschaften im Westen der USA erinnern. Was die vergessene "Region der fruchtbaren schwarzen Böden" nördlich der Donau aber ganz besonders auszeichnet, ist ihre vielfältige Kultur: Hier siedelten Bulgaren, Deutsche, Russen, Gagausen, Moldauer, Ukrainer und Juden. Und jede der Volksgruppen hatte ihre eigenen Dörfer.

"Es ist die Geschichte der Dörfer und seiner Bewohner, die dieses Land so interessant macht. Man baute Weizen, Mais, Sonnenblumen und Wein an", weiß der Unternehmer Alexander Palariev zu erzählen. Er wuchs hier auf, in einem der fünf Dörfer, die von der Sowjetunion knapp nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges für einen riesigen Waffen-Experimentierplatz dem Erdboden gleichgemacht wurden.

Frau in einem Boot in Vylkove im nördlichen Donaudelta.
© Weitlaner

"Von den Dörfern blieb nichts übrig", erzählt er. 1946 wurden alle Bewohner aufgerufen, ihre Häuser zu räumen. Das deutsche Dorf Hoffnungstal wurde schon 1940 freiwillig aufgegeben, als die Deutschen dem "Ruf der Heimat" folgten und alle ihre Siedlungen mit den klingenden Namen verließen. Palariev hat hier viel Land gekauft - und er hat sich seinen Traum verwirklicht: Nach Originalplänen baute er sechs traditionelle Siedlerhäuser nach - und ließ sie genau so dekorieren, wie das damals üblich war. Dass das sogenannte Ethno-Dorf heute touristischen Schauzwecken dient, stört ihn nicht. Herzstück seiner Anlage ist nämlich ein Wirtschaftsbetrieb: Palariev betreibt eine Schafzucht mit über 6.000 Tieren und dazu das Weingut Frumushika Nova. Zudem gibt es Ferienwohnungen und Bungalows für Urlaubsgäste.

Behübschte Vergangenheit in Form eines "Ethno-Dorfes".
© Weitlaner

Dass die Anlage fast 40 Kilometer von der Hauptstraße entfernt liegt und nur über unwegsame Sandpisten erreichbar ist, ist Teil des Abenteuers. Auch Wegweiser sucht man vergeblich. Dafür ließ der Unternehmer, der seine einstige Tätigkeit als Abgeordneter verschweigt, die weltgrößte Statue eines Schafshirten im Niemandsland errichten (siehe Abbildung). Diese ist im "Guinness Buch der Rekorde" eingetragen. Im weitläufigen Terrain stehen zwei ausrangierte Flugzeuge sowie eine grotesk anmutende Sammlung von Lenin- und Marx-Büsten - was einem "Stonehenge alter kommunistischer Würdenträger" gleicht.

Palarievs Unternehmen ist ein Jobmotor in der ohnehin infrastrukturschwachen Region. Immerhin sind das ganze Jahr über zwischen 50 und 70 Menschen aus den umliegenden Dörfern hier beschäftigt. Dieses Faktum betont Palariev ebenso wie die von ihm errichtete Kirche mit den goldenen Kuppeln, an der drei Jahre lang gebaut wurde. Doch der Unternehmer will noch weit mehr: In Zukunft sollen 6.000 Hektar der umliegenden Steppe inklusive zweier Seen zum Nationalpark erhoben werden. "Die Pläne liegen schon beim zuständigen Ministerium in Kiew", erklärt er stolz.

Stadt- und Landflucht

Das ändert aber nichts daran, dass immer noch viele, vor allem Junge, aus den Dörfern abwandern. "Auch das hat Tradition", sagt Palariev. "Schon immer haben Männer in Bessarabien im Ausland nach Arbeit gesucht und die Frauen sind mit den Kindern hiergeblieben." Arbeitsplätze sind Mangelware - und die Reallöhne extrem niedrig, für mitteleuropäische Verhältnisse sogar unvorstellbar niedrig.

Vom Verfall einer ganzen Stadt berichtet auch Sergey Shavlovski, den wir im Stadtpark von Reni treffen. Reni, an der Grenze zu Moldau, war einst der wichtigste Donauhafen der gesamten Ukraine. Bis die Regierung in Kiew eine folgenschwere Fehlentscheidung traf: Sie trat einige hundert Meter Donauufer im Tausch gegen einen Straßenkorridor zwischen Odessa und Reni an die Republik Moldau ab. Das Binnenland Moldau verfügte somit über einen Zugang zur Donau. In Windeseile wurde dort der moderne Freihafen Giurgiulesti errichtet, der dem Hafen von Reni das Wasser komplett abgrub.

Sergey Shavlovski mit einer von ihm erschaffenen Skulptur des "Planeten Reni".
© Weitlaner

Die Folgen für die kleine Stadt, die heute nur noch knapp 15.000 Einwohner hat, waren verheerend: Viele zogen weg, Grundstücks- und Wohnungspreise verfielen. Die riesigen Kräne im einstigen Hafen rosten still vor sich hin. An diesen traurigen Anblick kann sich Shavlovski immer noch nicht gewöhnen, obwohl er längst Pensionist ist. Zuletzt arbeitete er als Kriminalpolizist. "Es gab Schmuggler, Banden und Schutzgelderpresser. Auch das hat sich geändert", erzählt er. Einen Mord gab es zuletzt vor einigen Jahren - und der hatte mit offenen Rechnungen eines Gangsters zu tun, der vor Jahrzehnten aktiv war.

Tabu Stalin

Shavlovskis Lebensgeschichte ist ein Spiegelbild der Geschichte Bessarabiens. Aufgewachsen ist er im kleinen ukrainischen Dorf Leski als Enkel eines polnischen Großvaters, drei Jahre nach dem Tod Stalins. "Damals arbeitete die ganze Familie in einer Kolchose. Wir verdienten nichts, außer 150 Kilogramm Korn im Jahr. Wir lebten von allem, was wir im Garten hatten. Ausweise für die Bürger gab es keine. Über Politik wurde niemals gesprochen. Auch das Thema ‚Stalin‘ war tabu. Das Einzige, was man uns gelehrt hatte, war, dass die USA einen verfaulten Kapitalismus leben."

Heute ist ihm bewusst, wie hart das Leben in den Dörfern war und wie wenig die Menschen damals hatten. Selbst Süßigkeiten gab es keine. Nach der Grundschule, die bis zum 15. Lebensjahr dauerte, lernte er in Suvorove, in einer weiterbildenden Schule, Feldmaschinentechnik. Dort lernte er seine zukünftige Frau Valentina kennen. Sie kam aus einem bulgarischen Dorf. "Es war Liebe auf den ersten Blick", erzählt er. Nach der Schule trat er seinen Pflichtdienst bei der sowjetischen Armee in Eberswalde nahe Potsdam an. Er war erfolgreich und stieg bald zum Offizier auf. Seine Frau konnte erst zwei Jahre später nachfolgen, sie musste einstweilen weiter bei den Eltern ihres Gatten in der Ukraine leben.

Das Leben in Deutschland sei gut gewesen, denn man verdiente anständig. 1977 wurde ihr erstes Kind, Tochter Tanja, in der DDR geboren. 1981 kehrte die Familie nach Bessarabien zurück. Seinen Armee-Job gab Shavlovski dann drei Jahre später zugunsten der Polizei auf. Inzwischen kam auch Sohn Alexander zur Welt.

Inflationswelle

Um einen guten Job zu bekommen, war es natürlich notwendig, Mitglied der Kommunistischen Partei zu werden. Dass man Institutionen nicht trauen kann, weiß Shavlovski seither nur allzu gut - und er spricht auch nicht gerne darüber. Mit dem Zerfall der Sowjetunion änderte sich alles: Plötzlich war es nicht mehr notwendig, Parteimitglied zu sein. Ganz neu war auch die aufkeimende Kriminalität, die es zuvor nicht gab.

Neu war auch eine bis dato unbekannte, gewaltige Inflationswelle, die viele Menschen plötzlich arm machte. War es die ganzen Jahre hinweg verboten, Fremdwährungen zu besitzen, konnte man nun Dollar kaufen. Mit dem Bankrott mehrerer großer Banken, wo Menschen ihre gesamten Ersparnisse bunkerten, verloren viele den Glauben an diese Institution. Das ist bis heute so geblieben. Er kenne viele Menschen, die ihre Ersparnisse, meist in Dollar, immer noch zu Hause horten.

Mit der neuen Möglichkeit, reisen zu können, erfüllte sich seine Frau den langgehegten Wunsch, endlich die Heimat ihrer Familie in Bulgarien zu besuchen. "Wir haben auch sofort mitbekommen, dass man im Ausland sehr viel mehr Geld verdienen kann als in der Ukraine." Seine Frau begann 1993 zwei Monate lang in Polen zu arbeiten. Nachdem er seinen Dienst bei der Polizei 1998 kündigte, folgte Shavlovski seiner Frau und begann in Polen Häuser zu renovieren.

Schon bei seiner ersten "Arbeitsreise" geschahen zwei Dinge, die sein Leben nachhaltig veränderten: Eines war das Bild seines Traumhauses, das andere das Treffen mit dem polnischen Bildhauer Edmund Majkowski. "Insgesamt habe ich 13 Jahre lang an unserem Eigenheim gebaut", erzählt Shavlovski stolz. Das Geld haben sich beide quasi vom Mund abgespart. Entstanden ist ein wunderschönes, großes Haus, umgeben von einem Garten, der alles liefert, was man für das tägliche Leben braucht.

Das zweite Ereignis war mindestens genauso bahnbrechend: "Bis zur Begegnung mit Majkowski hatte ich nicht viel für Kunst übrig. Er hat mir viel beigebracht - wohl auch deshalb, weil er es körperlich nicht mehr schaffte." Shavlovski hat nicht nur die Technik von seinem Mentor gelernt, sondern auch das Verständnis für Formen und Gestaltung. Heute ist sein Schaffen in ganz Reni ein Begriff. Schließlich befinden sich im Stadtpark mehrere seiner Werke - und auch auf einer Ausfahrtstraße hat er den in der Umgebung lebenden Störchen ein würdiges Denkmal gesetzt.

Shavlovskis "Störche" in Reni.
© Weitlaner

Seine Zeit verbringt Shavlovski heute mit Fischen oder in seinem Garten. Gattin Valentina züchtet im Garten Blumen und verkauft die Sträuße am Markt.

Problembär Russland

Immer noch verhalten zeigen sich die Menschen in Bessarabien, wenn es um politische Themen geht. Politisieren in der Öffentlichkeit hat keine Tradition. War das Verhältnis zum großen Bruder Russland zunächst recht neutral, änderte sich die Situation mit einigen einschneidenden Ereignissen komplett: Eines davon war die Vergiftung des Präsidenten Wiktor Juschtschenko im Zuge der "Orangenen Revolution" 2004, für die man, ohne es deutlich auszusprechen, die russische Führung verantwortlich machte.

Ein weiteres war die blutige Niederschlagung der Aufstände in Kiew im Herbst 2013, die bis zum Winter 2014 andauerten. Belastend für die Beziehung der beiden Länder waren auch der Versuch der Gründung einer "Volksrepublik" in Odessa, die am 2. Mai 2014 zum Mord an ukrainischen Patrioten sowie zum Brand des Gewerkschaftshauses führte. Der "Gipfel" war schließlich die Annexion der Krim durch Russland.

"Seit der ‚Würderevolution‘ in Kiew, der Annexion der Krim und dem in Donetsk und Lugansk unter russischen Trikoloren ausgebrochenen Krieg sind die Russen keine Freunde mehr", sagt Shavlovski.

Für Unruhe in Bessarabien sorgen auch die politischen Probleme im benachbarten Moldau. Das Land, das wie die Ukraine vor 30 Jahren unabhängig wurde, bekannte sich zu einem proeuropäischen Kurs, der dann mit dem Konflikt in Transnistrien gebremst wurde. "Dort mischen die Russen kräftig mit. Sie haben einen eigenen Teilstaat errichtet, in dem kyrillisch geschrieben wird und der sich zu Russland bekennt."

Dass Ähnliches auch in der Ukraine passieren könnte, davor haben Menschen wie Shavlovski Angst. Der proeuropäische Kurs werde zugunsten eines prorussischen verlassen. Die Ängste sind nicht unbegründet, denn sämtliche freie TV-Sender sind russisch, die ukrainischen hingegen kostenpflichtig. Heute dürfen Ukrainer noch ohne Visum in die EU einreisen. "Die Frage ist, wie lange noch. Denn es wird konsequent ein antieuropäisches Klima erzeugt", meint Shavlovski. Das sehe man schon an der Einstellung gegenüber der EU: "Ich hoffe, dass die Menschen in Europa diese Situation richtig einschätzen. Es geht auch uns darum, ein besseres Leben führen zu können."

Dass der Konflikt mit Russland auch im Osten der Ukraine so schnell nicht gelöst wird, ärgert den Pensionisten.

Dass viele der Probleme Folgen einer schlechten Ausbildung sind, bestätigen vor allem Intellektuelle an den Universitäten. "Es ist unerträglich, dass die Menschen alles, was mit Russland zu tun hat, so schätzen und dabei vergessen, dass es auch ein gemeinsames Europa gibt. Das größte Problem in diesem Land ist die Korruption. Nach dem Zerfall der Sowjetunion haben sich einige am Vermögen des Staates bereichert. Sie haben ohne Skrupel die Staatskassen geplündert", erzählt eine Universitätsprofessorin in Ismajil, die anonym bleiben will.

Ausgeblutete Unis

"Die Situation an den Universitäten wird durch permanente Budgetkürzungen immer ärger: Professoren verdienen hier weniger als jede Putzfrau in Deutschland oder Österreich." Die Folgen für das Land sind schlimm: Der Brain-Drain ins Ausland - nach Europa, auch in die USA und nach Kanada - ist hoch. Eine Mutter berichtet von einer Volksschule in Ismajil, wo die Kleinen als zweite Fremdsprache Französisch oder Deutsch angeboten bekamen, was die meisten Eltern ablehnten. Ihrer Meinung nach reiche es völlig, Russisch zu können.

Bessarabisches Dorf mit vergoldeten Kirchenkuppeln . . .
© Weitlaner

"Die Bestrebungen Palarievs, in der Steppe ein Unternehmen aufzuziehen, sind ja ehrbar, aber die meisten der Arbeitskräfte dort sind ungelernt. Sie haben kaum eine Ausbildung - und auch kein Interesse, an einer Tourismusschule etwas zu lernen. Leider hat es den Anschein, dass das auch zum Konzept gehört, denn damit bleiben die Arbeitskräfte noch billiger", erklärt eine Pädagogin aus Odessa, die ebenso anonym bleiben möchte.

Dass der Unternehmer Palariev seine politische Vergangenheit unter den Teppich kehrte, finde sie ebenso typisch. Im Volksmund munkelt man immer noch, dass sich die Abgeordneten einfach immer die größten Rosinen aus dem Kuchen fischen. "Dafür errichten sie dann Kirchen mit goldenen Kuppeln - als wollten sie sich bei Gott dafür freikaufen." Das passt übrigens auch zur politischen Rolle der orthodoxen russischen Kirche. Dort sollen angeblich auch ehemalige KGB-Agenten mitmischen. "Vielleicht verstehen sie jetzt, warum ich meinen Namen nicht in der Zeitung lesen will", erklärt die Frau abschließend.

Wolfgang Weitlaner, geboren 1964, ist seit mehr als 20 Jahren als freier Reisejournalist, Fotograf, Lektor und Vortragender tätig.