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Die wachsende Entsäkularisierung islamischer Gesellschaften macht auch vor Nigeria nicht Halt. Rund ein Dutzend Bundesstaaten haben im mehrheitlich von Moslems bewohnten Norden die Sharia eingeführt und untergraben damit die säkulare Staatsordnung des westafrikanischen Landes. Vor wenigen Wochen wurde im Bundesstaat Katsina erstmals eine Hinrichtung nach islamischem Recht vollstreckt. In Sokoto droht einer 35-jährigen Nigerianerin wegen Ehebruchs die Steinigung, seit die Gerichte Allahs Willen wiederentdeckt haben.
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Der tragische Fall von Safiya Husaini, Mutter eines 10-Monate alten Mädchens, hat kürzlich auch Europa aufgerüttelt. 77 Abgeordnete des Europäischen Parlaments appellierten am Sonntag in einem Schreiben eindringlich an Nigeria, das Leben der zum Tode verurteilten Frau zu retten. Die Ermahnung aus Straßburg hat zumindest dazu geführt, dass das Gericht in Sokoto das Revisionsverfahren am Montag auf März vertagt hat.
Safiya kann also hoffen. Dass die Richter Gnade walten lassen, ist aber keineswegs sicher. Generalstaatsanwalt Aliyu Abubakar Sanyinna ist ein strenger Muslim: "Es ist das Gesetz Allahs. Indem wir jemanden exekutieren, der nach islamischem Recht für schuldig befunden wurde, erfüllen wir nur Seine Gesetze. Es muss uns also nichts leid tun", sagte er vor einigen Wochen.
Sollte das Todesurteil bestätigt werden, wird Safiya bis zur Brust in die Erde eingegraben, bevor die tödlichen Steine auf sie niedergehen. Die Details darf der Richter bestimmen.
Das Vergehen der geschiedenen vierfachen Mutter: sie soll von einem verheirateten Mann ein Kind bekommen haben. Safiya erfuhr von ihrem Todesurteil, als die kleine Adama auf die Welt kam. Der angebliche Vater, Yakubu A., war bereits mit zwei Frauen verheiratet. Er wollte weder eine dritte Ehe noch den Unterhalt für das Kind zahlen. Als Safiyas Vater ihn deshalb zur Rede stellte, wandte sich der Mann an die Polizei. Der Fall kam vor Gericht. Dieses hatte zunächt auch ihn wegen Ehebruchs im Visier, sprach ihn aber mangels Beweisen frei, nachdem Safiya angegeben hatte, von ihm vergewaltigt worden zu sein. Sie wurde zum Tode verurteilt.
Kein Geld, kein guter Anwalt
Safiya war schlecht beraten. Ihren Anwalt (Abdul Kadar Imam Ibrahim) hatte sie erstmals vor Gericht gesehen. Eine nochmalige Befragung von Yakubu A. lehnte dieser ab. "Warum soll man ihm nochmals Mühe bereiten", meint er einfühlsam. Und erzählt freimütig, dass er von Freunden und Bekannten bedrängt worden war, den Fall erst gar nicht zu übernehmen.
Im Revisionsverfahren, bei dem nun die Todesstrafe bis zur neuen Verhandlung im März ausgesetzt wurde, widerrief Safiya und gab nun ihren geschiedenen Ehemann als Kindsvater an. Damit, hofft sie, kann sie dem Todesurteil vielleicht entgehen. Nach islamischem Recht ist Geschlechtsverkehr unter Ehepartnern bis zu sieben Jahren nach einer Trennung erlaubt. Solange der Prozess läuft, darf Safiya mit ihren vier Kindern und ihrem blinden Vater weiter in einer kleinen Hütte in dem Dorf Tungar Tudu, 30 Kilometer von der Hauptstadt Sokoto entfernt, leben.
Gehängt statt erstochen
Bereits vollzogen wurde zu Jahreswende ein Todesurteil nach islamischem Recht im Bundesstaat Katsina. Dort wurde unter heftigem Protest der Zentralregierung der 27-jährige Sani Yokubu gehängt, nachdem er schuldig befunden worden war, die Frau seines Arbeitgebers und deren zwei Kinder ermordet zu haben. Der hinterbliebene Ehemann hatte 25 mal auf den Koran schwören müssen, dass er der Mörder sei. Das reichte.
Die Forderung des muslimischen Gelehrten Sheikh Habibu Kaura, wonach Sani Yokuba mit derselben Machete den Tod finden müsse, mit der er seine Opfer umbrachte, lehnte der Sharia-Richter ab.
Die Geistlichen befürchten neue Unruhen, nachdem Zusammenstöße zwischen Christen und Moslems seit der Einführung der Sharia Anfang 2000 in den nördlichen Provinzen bereits 3000 Menschenleben gefordert haben.
Im Bundesstaat Kebbi im äußersten Nordwesten Nigerias wurde ein Mann wegen eines Verhältnisses mit einem Minderjährigen zum Tode durch Steinigung verurteilt. In Sokoto wurde einem Dieb die Hand amputiert. Zwei Angestellte einer Bundesbehörde mussten in Sokoto je 40 Peitschenhiebe öffentlich über sich ergehen lassen, weil sie einem Kollegen 1.500 Dollar entwendet hatten. Neben Diebstahl, Unzucht und Ehebruch gelten in den Sharia-Staaten auch Prostitution sowie Glücksspiele als Sünden Allahs. Der Konsum von Alkohol ist unter Androhung drakonischer Strafen ebenfalls strikt untersagt.
Die christliche Minderheit, die in den Nordstaaten lebt, ist von der islamischen Rechtssprechung zwar ausgenommen, fühlt sich aber durch sie in ihrer kulturellen Identität bedroht. Die Ängste entladen sich immer wieder in blutigen Zusammenstößen und Pogromen. Präsident Olusegun Obasanjo, der im Mai 1999 16 Jahre Militärdiktatur beendet hat, ist es bisher nicht gelungen, die religiösen Spannungen in den Griff zu kriegen. Selbst ein Christ, hat er die Sharia zwar als Verstoß gegen die säkulare Verfassung von 1999 gebrandmarkt, Bischöfe und Politiker werfen ihm aber vor, nicht genügend dagegen zu unternehmen.
Einen großen Rückschlag erlitt der Kampf gegen religiösen Fundamentalismus mit dem Tod des Justizministers und Obersten Staatsanwaltes Bola Ige. Dieser hatte Steinigungsurteile als "grausam" und "anachronistisch" verurteilt und Safiyas Revisionsverfahren unterstützt. Am 23. Dezember wurde er von Unbekannten ermordet. Ob wegen seines Einspruchs gegen das Todesurteil, das er bis vor das Oberste Gericht in Abuja bringen wollte, oder aufgrund einer lokalpolitischen Fehde, darüber streiten sich in Nigeria die Geister. Eines ist jedenfalls unbestritten: Safiyas Todesurteil ist nur ein kleiner Stein in einem größeren (religiös-)politischen Machtspiel.