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Im Pub mit Mister Hitler

Von Peter Nonnenmacher

Wissen

Ein gut gehütetes Geheimnis oder nur eine freche Legende?


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London. Dass Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß 1941 nach Schottland flog, um mit dem Herzog von Hamilton Friedensverhandlungen aufzunehmen, ist jedem Schulkind in Britannien ein Begriff. Bekanntermaßen landete Heß ja statt an der Tafel des Herzogs im Tower of London.

Dass aber der Führer selbst einmal Weihnachten in England feierte, sich monatelang in der Stadt Liverpool herumtrieb und im Poste House Pub unter den Einheimischen speiste, darüber geben die Geschichtsbücher keine Auskunft. Es ist, außerhalb Liverpools, das bestgehütete Geheimnis der Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Schwägerin als Quelle

Oder die frechste Legende der jüngsten Vergangenheit. Da sind sich die Experten noch nicht ganz einig. Die einzige Quelle für Hitlers fünfmonatigen Aufenthalt in England ist nämlich seine 1969 verstorbene Schwägerin Bridget. In deren Memoiren - "Mein Schwager Adolf" - ist der Besuch in allen Einzelheiten beschrieben.

Bridget, muss man wissen, war eine geborene Dowling aus Dublin und wohnte mit ihrem Gatten Alois vor dem Ersten Weltkrieg in Liverpool. Alois war Adolfs älterer (Halb-)Bruder. Er hatte irgendwann genug vom Kellnern und wollte ein Rasierklingen-Imperium begründen. Um sich diesen Traum zu erfüllen, bat er seine Schwester Angela um Beistand. Er schickte ihr ein Ticket, um sie aus Wien nach Liverpool zu holen.

An Angelas Stelle aber traf - so geht die Geschichte - in Liverpools Lime Street Station an einem Novembertag des Jahres 1912 mit dem 11.30-Uhr-Zug ein junger, verwahrloster Adolf Hitler ein. Der 23-Jährige, so heißt es, habe sich vor der Einberufung in Österreich drücken wollen. Bei der Verwandtschaft in Liverpool schlüpfte er unter. Er soll bis zum April des darauf folgenden Jahres in der Hitler-Wohnung in der Upper Stanhope Street Quartier bezogen haben.

Die Chronik dieses Besuchs, wohl noch vor jenem fatalen Heß-Flug aufgezeichnet, ist nun der Fachwelt nicht gerade neu. Die Memoiren tauchten in den 70er Jahren in Amerika auf, wohin sich des Führers Schwägerin während des Zweiten Weltkriegs (sicherheitshalber) verzogen hatte. Die Entdeckung der Papiere löste einigen Rummel aus. Seit ihrer Veröffentlichung 1979 sind renommierte Historiker höhnisch über sie hergezogen.

In England aber, das seine skurrilen Geschichten liebt, hat die Legende immer neue Blüten getrieben. Einem heiteren Roman, einem Bühnenstück, einer Doku fürs Fernsehen hat sie Stoff geliefert. In Liverpool selbst behaupten noch heute Leute, von ihren Großeltern etwas über den eigenartigen Mann vom Kontinent gehört zu haben, der sich im Laden an der Ecke mit Malstiften eindeckte. Überall will man Hitler gesichtet haben. In einer Eisbahn-Halle in der Stadt sollen zeitweise seine Schlittschuhe ausgestellt gewesen sein.

Neu aufbereitete Geschichte

Nun hat Mike Unger, ein früherer Chefredakteur der "Liverpool Daily Post", in seinem neuen Buch "Die Hitlers von Liverpool" das mysteriöse Stückchen Lokalgeschichte neu aufbereitet. Und ist, nach langwierigen Recherchen, zum Schluss gekommen, dass die Memoiren der Schwägerin Hitlers vollkommen ernst zu nehmen seien. Hitler was here, beteuert der Liverpooler. So darf man sich Hitler wieder in Bridgets Küche, wie sie ihn beschrieben hat, vorstellen? Den Neffen William auf dem Schoß? Über Deutschlands künftige Rolle in der Welt schwadronierend?

Vielleicht ja auch Hitler in seinem Zimmer, auf Santa wartend? Still und in sich gekehrt? Für die Welt verloren? Mit Sicherheit hätte der Gast aus Wien, wann immer ihm Alois etwas Geld gab, im Poste House Pub etwas getrunken. Und in Liverpools langen Winternächten wäre er allein den Mersey entlang spaziert. Viel Englisch konnte er ja nicht. Da gab es auch nicht viel zu reden.

Einmal, heißt es, habe Hitler es sogar auf eine Sightseeing-Tour nach London geschafft. Die Tower Bridge wollte er angeblich sehen. Auf der herumzulaufen wäre nun sicher viel lustiger gewesen, als seine Tage in jenem Männerheim in Wien zu vertrödeln, aus dem ihn eine pedantische Geschichtswissenschaft bis heute nicht entkommen lassen will.

Auch Historiker aber, wehrt man in Liverpool ab, können sich irren. Weder lässt sich (bisher) beweisen, dass Hitler auf der Insel war, noch lässt es sich widerlegen. Möglicherweise hätte man ja einmal ein Indiz gefunden, wenn es das Hitler-Haus in der Upper Stanhope Street noch gäbe. Das allerdings gibt es, dank Hitler, nicht mehr. Es ist von der Luftwaffe in Trümmer gelegt worden.