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Im Schatten des großen Bruders

Von Gerhard Lechner

Europaarchiv

Gespräche über Fusion von Gazprom und Naftogaz. | Opposition in der Ukraine gerät unter Druck. | Kiew/Wien. Der strömende Platzregen in Kiew störte am Montag zwar die Kranzniederlegungen und Gedenkzeremonien in Kiew, am politischen Tauwetter zwischen der Ukraine und Russland vermochte das Wetter freilich ebenso wenig zu ändern wie Protestaktionen ukrainischer Nationalisten: Seit Wiktor Janukowitsch im Februar in den Präsidentenpalast in Kiew einzog, hat sich das Verhältnis zum Kreml mehr als entspannt.


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Trotz Versuchen der neuen Kiewer Führung, eine pragmatische "Schaukelpolitik" zwischen Russland und der EU zu betreiben, ist für Beobachter doch eine klare Neigung der Magnetnadel nach Osten zu bemerken. Dem trägt Russlands Präsident Dmitri Medwedew mit einem zweitägigen Arbeitsbesuch in Kiew Rechnung, bei dem eine ganze Reihe von Abkommen unterzeichnet werden soll.

Medwedew reiste nicht allein nach Kiew: Mit dabei in der hochkarätig besetzten russischen Delegation waren unter anderem Außenminister Sergej Lawrow, Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow, Energieminister Sergej Schmatko und natürlich der mächtige Chef des Gaskonzerns Gazprom, Alexej Miller. Kein Wunder: Denn neben der Zusammenarbeit in Fragen der Atomenergie oder im Flugzeugbau, wo die Verhandlungen laut dem ukrainischen Ministerpräsidenten Mykola Asarow derzeit stocken, soll es wieder einmal ums Gas gehen. Es war Russlands Premierminister Wladimir Putin, der Ende April in Sotschi auf einer Pressekonferenz mit Asarow seinen ukrainischen Kollegen mit der Idee überraschte, die beiden staatlichen Gaskonzerne Gazprom und Naftogaz zusammenzulegen. Der Haken dabei aus Sicht Kiews: Die ukrainische Naftogaz entspricht vom Wert her nur 8 Prozent der Aktien von Gazprom; eine Fusion käme also einer Übernahme des ukrainischen Unternehmens gleich und würde Russland seinem Ziel näher bringen: Der Kontrolle über die Pipelines in der Ukraine und damit des Leitungssystems nach Europa. Eine von Moskau gänzlich unabhängige Politik - eine ohnedies nur schwer realisierbare Wunschvorstellung politischer Kreise in Kiew - wäre dann wohl kaum mehr möglich.

In Kiew reagierte man daher von Anfang an zurückhaltend auf den Vorschlag, wenn auch nicht grundsätzlich ablehnend: "Wenn ich in Sotschi gewesen wäre, hätte ich Putin die Hand hingestreckt und gesagt: Einverstanden - fifty-fifty", äußerte Janukowitsch den - reichlich unrealistischen - Wunsch nach Parität in einem neuen Großkonzern. Ein andermal sprach sich der ukrainische Präsident dafür aus, die EU mit ins Boot zu holen. Medwedew stellte allerdings im Vorfeld seines Besuches bereits klar, dass "momentan" von einer Fusion der beiden Gasunternehmen nicht die Rede sein könne, da das "kompliziert" sei. Möglich seien aber die Fusion einzelner Aktiva und Joint Ventures.

Dass sich das Verhältnis zwischen Kiew und Moskau entspannt hat, sieht man auch daran, dass der Besuch Medwedews in Kiew sein erster offizieller Staatsbesuch in dem Nachbarland ist. Unter dem Vorgänger Janukowitschs, dem westlich orientierten Präsidenten Wiktor Juschtschenko, hatten die historisch so engen wie problembelasteten Beziehungen der beiden Staaten spürbar gelitten. Ukrainische Medien vermerkten am Montag positiv, dass Medwedew auch einem Gedenken am Kiewer Holodomor-Denkmal beiwohnte, das an die vom Stalin-Regime provozierte Hungersnot in den 30er Jahren erinnert.

Timoschenko angeklagt

Manche fürchten allerdings, dass die Orientierung an Russland sich auch innenpolitisch auswirken könnte: So war es wohl kein Zufall, dass just an dem Tag, an dem Medwedew Kiew besuchte, die frühere Premierministerin und Oppositionschefin Julia Timoschenko vor Gericht vorgeladen wurde. Unüblich rasch war ein 2005 eingestelltes Verfahren gegen die Politikerin wieder aufgenommen worden: Timoschenko, die kein Parlamentsmandat besitzt, das ihr Immunität gewähren würde, soll vor Jahren versucht haben, Richter des Obersten Gerichts zu bestechen. Die Oppositionschefin dementiert heftig und spricht von einem "politisch motivierten" Verfahren gegen sie. Eines ist zumindest auffällig: Seit Janukowitsch mit seiner "Überläufer-Koalition" auch volle Unterstützung im Parlament genießt, trifft das Verfassungsgericht, das vorher immer zwischen den unterschiedlichen Machtblöcken lavierte, seine Entscheidungen deutlich schneller.