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Im Südosten der Türkei droht ein Bürgerkrieg

Von Gastkommentar von Mevlüt Kücükyasar

Gastkommentare
Mevlüt Kücükyasar ist Soziologe undPolitikwissenschaftler sowie Vorstandsmitglied des Rates der KurdischenGesellschaft (Feykom) in Wien.
© privat

In Dutzenden kurdisch besiedelten Städten herrscht Ausnahmezustand.


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Die EU erwartet sich von der türkischen Regierung eine Reduktion der Flüchtlingszahlen und verspricht als Gegenleistung drei Milliarden Euro sowie Visa-Erleichterungen für türkische Bürger und einen rasche EU-Betritt der Türkei. Tatsächlich strömen aber weiterhin tausende Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak über die Türkei in die EU. Führt man sich die Perspektivlosigkeit der Flüchtlinge in der Türkei vor Augen, ist deren Flucht nach Europa nur allzu verständlich. Auf der anderen Seite entwickelt sich die Türkei für die eigenen Bürger immer mehr zu einem Fluchtland.

In Dutzenden kurdisch besiedelten Städten im Südosten des Landes herrscht Ausnahmezustand. Täglich erreichen uns neue Meldung über Belagerungen kurdischer Städte, Ausgangssperren, massenweise Festnahmen von Oppositionellen sowie Straßenschlachten der Polizei und Armee mit der PKK-nahen Jugendbewegung. Es herrschen in vielen kurdischen Städten Bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Zahl der Flüchtlinge wird auf 200.000 bis 300.000 Menschen geschätzt, wobei es sich bislang um Bienenflüchtlinge handelt. Bei länger andauernden Ausschreitungen ist eine Flucht nach Europa nicht ausgeschlossen.

Zuletzt wurden in der kurdischen Staat Van bei einer Polizeirazzia zwölf junge Männer, darunter fünf Studenten ermordet. Entgegen der Behauptungen der Polizei spricht die kurdische Abgeordnete der Demokratischen Partei Völker (HDP) Lezgin Botan von einer "Massenhinrichtung". 11 der 12 Opfer seien durch Kopfschüsse getötet wurden, daher sei es unmöglich, dass dies bei einer Schießerei passiert.

Bei dieser Exekution handelt es sich leider nicht um einen Einzelfall. Laut der Türkischen Menschenrechts Stiftung (TIHV) sind im Zeitraum vom 16. August 2015 bis Anfang Januar 162 Zivilisten ermordet worden – darunter waren 32 Kinder und 29 Frauen. Seit mehr als drei Monat liefern sich Polizei und Militär Straßenschlachten mit der PKK nahestehenden Jugendlichen. Ein Ende dieses Krieges ist nicht absehbar, zumal der türkische Premier Ahmet Davutoglu und der Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan mit einem noch härteren Einschreiten gedroht haben.

Die Angriffe des türkischen Staates kommen nicht von ungefähr und sind als Retourkutsche für die Wahlerfolge der pro-kurdischen HDP und deren Forderung nach einer regionalen Selbstverwaltung zu verstehen. Aufgrund des Parlamentseinzugs der HDP musste Erdogan seinen Herzenswunsch das Präsidialsystem ad acta legen. Es fehlt ihm die notwendige Mehrheit im Parlament für eine Verfassungsänderung. Gegenwärtig will er die Kurden durch einen asymmetrischen Krieg auf die auf die Knie zwingen. Weil er keine ebenbürtigen Verhandlungspartner dulden kann, hat Erdogan auch den Friedensprozess mit den Kurden aufgekündigt. Nun will dieser eine Verfassungsänderung ohne Kurden auf die Beine stellen. Zuletzt wurde die HDP vom Premierminister von den Gesprächen über Verfassungsreform – mit der Begründung diese wollen eine Selbstverwaltung in kurdischen Gebieten – ausgeladen.

Beschämend ist an dieser Stelle vor allem die Rolle der EU, die Ankara für die Lösung der Flüchtlingsfrage braucht. Europa hat ihre Ideale aufgegeben und schaut weg, während die Türkei mit Kriegsmaschinerie gegen kurdische Zivilisten vorgeht und einem Kurden nach dem anderen morden lässt. Das Schweigen der EU unterstützt das Erdogan-Regieme in seinem erbarmungslosen Vorgehen gegen Kurden und andere politische Gegner. Die EU schaut zu, wie sich die Türkei Schritt für Schritt einer Diktatur nähert. Es sieht mittlerweile ganz danach aus, als würde Erdogan die Türkei mit den Geldern der EU und der politischen Unterstützung von Merkel gegen die Wand fahren. Die Kurden fühlen sich von der Europäischen Union verraten.