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Auf den ersten Blick sind die Wahlen des vergangenen Wochenendes nicht auf einen Nenner zu bringen: Spaniens Bürger votierten für einen Linksruck und erteilten dem alten, korrupten Zweiparteiensystem eine Absage, indem sie mit "Podemos" ("Wir können") und "Ciudadanos" ("Bürger") die beiden nächsten Start-ups auf die politische Landkarte Europas warfen. Die als konservativ abgestempelten Iren sprachen sich für die Homo-Ehe aus. Und schließlich sorgten die Polen für einen Rechtsruck, indem sie den weitgehend unbekannten Andrzej Duda von der Nationalkonservativen "Partei für Gerechtigkeit" ins Präsidentenamt hievten.
Unterschiedlicher könnte die politische Signalwirkung dieser drei nationalen Wahlgänge also nicht sein, dennoch lässt sich aus den Entscheidungen so etwas wie ein gemeinsames europäisches Grundmuster destillieren.
Erstens: Immer mehr Wähler in Europa sind nicht bereit, politischen Parteien die Mauer zu machen, in deren Reihen und unter deren Schutzmantel Filz und Korruption gedeihen. Lieber anständige Amateure als korrupte Profis in Regierungsämtern.
Zweitens: Der Einfluss politisierender religiöser Autoritäten auf Fragen der alltäglichen Lebensführung ist passé. Ob dieser Befund auch für die sogenannten letzten Fragen des Lebens gilt, wird sich in den kommenden Jahren bei der rechtlichen Gestaltung der Sterbehilfe zeigen. Zweifellos verfügt hier das Wort der Kirchen noch über eine vergleichsweise wettbewerbsfähige Überzeugungsmacht bei Bürgern und Politikern.
Drittens: Die Bürger beharren auf ihrem Recht, neuen Gesichtern eine Chance zu geben, wenn sie das Gefühl haben, es sei wieder einmal Zeit für einen Elitenaustausch. Einfach so, ohne große weitere Begründung. Das ist hart für eine Regierung, die glaubt, fast alles richtig und wenig falsch gemacht zu haben. Doch Macht verbraucht sich, und regelmäßige Rochaden sind das einzige zuverlässige Mittel gegen Selbstzufriedenheit, Abgehobenheit und Amigowirtschaft, die mit den Jahren der Regierungstätigkeit unweigerlich zunehmen.
Europa ist viel zu heterogen, als dass die Wähler sich unter den Rhythmus eines Pendelschlags zwingen ließen. Aber unterhalb der weltanschaulichen Oberflächlichkeiten ticken die Bürger zunehmend im gleichen Takt. Die Politik müsste diesen jetzt nur noch hören und aufnehmen.