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"Wiener Zeitung": Vergangenen Sommer haben Physiker des Kernforschungszentrums Cern in Genf das Higgs-Teilchen gefunden. Ohne Higgs-Boson gäbe es nach dem Standardmodell der Physik zur Entstehung des Universums kurz nach dem Urknall keine Masse und somit keine Atome und kein Leben. Welche weiteren Rätsel sind zu lösen, um die Ursprünge des Lebens zu verstehen?
André Brahic: Eine Frage, die wir uns seit Jahrtausenden stellen, ist, woher wir kommen. Früher haben sich Philosophen damit beschäftigt - heute sind es Biologen, Physiker und Astronomen. Doch was bedeutet die Entdeckung des Higgs-Teilchens?
Sie zeigt, dass das Standardmodell der Physik funktioniert. Auch in der Astronomie arbeiten wir mit Modellen, die sich immer
wieder überholen. 1500 Jahre lang glaubten wir, Claudius Ptolemäus’ Theorie des geozentrischen Weltbildes sei richtig. Ptolemäus hatte zwar recht damit, dass die Erde rund ist, ebenso wie seine Epizykeltheorie weitgehend richtige Berechnungen der Planetenbahnen erlaubte. Aber mit der Idee, die Erde sei im Zentrum
des Universums fixiert und die anderen Planeten und Sterne kreisen um sie, lag er gründlich falsch.
Ein Modell ist also keine Beschreibung der Wahrheit, sondern ein Werkzeug, um etwas zu erklären. Das Standardmodell ist ein sehr nützliches Werkzeug, aber es erklärt nicht den Ursprung des Lebens.
Wie würden Sie als Astronom den Ursprung des Lebens erklären?
Wurde etwas geschaffen, oder wurde etwas transformiert? Über diese Frage diskutieren wir seit Jahrhunderten. Viele Forscher sind der Ansicht, dass man aus dem Nichts nichts schaffen kann. Somit ist, was wir Ursprung nennen, eigentlich das Ende. Menschen bestehen aus Atomen von Elementen, die Sternen-Explosionen vor sechs bis zwölf Milliarden Jahren entsprungen sind. Die Entstehung von Atomen ist also das Ende eines komplexen Prozesses, dessen Resultat unter anderem die Erde und auch wir Menschen sind.
Sterne explodieren, Atome entstehen und aus ihnen Moleküle. Manche Moleküle bilden Nebelflecken, in deren Zentrum Materie kollabiert, und daraus entstehen Sonnen, um die Planeten kreisen. Wenn ein Planet sich im richtigen Abstand zu seiner Sonne befindet und die richtige Größe hat, kann Leben entstehen. Dass wir heute auf der Erde sind, verdanken wir Jupiter. In Sonnennähe entwischten leichte Moleküle und Atome aus Wasserstoff und Helium, aus denen 99 Prozent des Universums bestehen - weiter weg war alles da. Ein kleiner Körper, wie die Erde, der sich weiter weg von der Sonne bildete, zog diese Gase an und wuchs. So entstand Jupiter. Er wirkte sich nicht nur auf die Gravitation in unserem Planetensystem aus, sondern war auch maßgeblich dafür, welche Kollisionen zustande kamen. Das hatte zur Folge, dass vor 3,8 Milliarden Jahren (800 Milliarden Jahre, nachdem die Erde entstand, Anm.) der Mond, der von allen möglichen Brocken aus dem
All bombardiert wurde, mit der Erde kollidierte. Die Erdkruste brach auf, Gase und Kohlenstoffe entwichen aus ihrem Inneren. Angereichert wurden die Voraussetzungen für Leben mit Material von Kometen und Asteroiden. Das Leben kam also von außen und von der Erde selbst.
Sind Kohlenstoff, Wasser und Sauerstoff immer zwingend die Voraussetzung für die Entstehung von Leben?
Jeder versteht die Ideen von Zeit, Raum, Materie und Leben. Aber wenn Sie mich nach einer Definition von Zeit fragen würden, wüsste ich keine. Manche Kollegen sind der Ansicht, Zeit existiert nicht. Ich aber bin der Ansicht, Raum existiert nicht. Absoluten Raum gibt es nicht. Wir sind in keinem Raum, denn was wir Raum nennen, ist eine Umgebung von Materie, und für die Materie haben wir ein Modell, das nicht zwingender Weise die Wahrheit beschreibt.
Wenn wir weiter denken, stellt sich die Frage: Was ist Leben? Ist Fortpflanzung dafür maßgeblich? Wasser und Eis pflanzen sich nicht fort. Liegt es an der Tatsache, dass es atmet? Wir wissen nicht, was Leben ist. Wir sehen nur das Leben auf der Erde. Aber stellen Sie sich ein Leben außerhalb der Erde vor. Bisher haben wir es anscheinend noch nicht gefunden, aber wenn Sie mich fragen, ob es das gibt, dann kann ich nur sagen: Ich weiß es nicht. Deswegen suche ich es. Nur wissen wir nicht, was genau wir suchen. Alles, was wir mit den Nasa-Raumfähren "Voyager" und "Cassini" gefunden haben, hatte nichts mit unseren Vorstellungen zu tun. Dennoch wurden wir nie enttäuscht.
Wenn wir also außerirdisches Leben finden, werden wir etwas finden, das nichts zu tun hat mit dem, was wir uns vorgestellt haben. Und dann werden wir verstehen, dass das Leben auf der Erde ein sehr eigener, besonderer Fall ist von etwas viel Generellerem. Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Verständnis des Universums, das unser Leben ändern könnte.
Jüngst wurde bekannt, dass es viel mehr erdähnliche Planeten gibt als angenommen. Wie hoch sind die Chancen, dass es auf ihnen außerirdisches Leben gibt?
Manche Biologen erklären, das Leben sei komplex und unwahrscheinlich. Manche Astronomen sagen, es gibt 1000 Billiarden von Sternen. Es ist also sehr unwahrscheinlich, dass Leben nur auf einem einzigen Planeten existiert. Jedoch gehört viel dazu: Hätte die Erde keinen Mond, hätte sie keinen stabilen Orbit: Der Mond hält uns wie ein Seiltänzer auf dem Seil, ohne ihn hätten wir zu extreme Jahreszeiten, um existieren zu können. Und die Erde gibt es seit 4,5 Milliarden Jahren, intelligentes Leben auf ihr seit zwei Millionen Jahren. Doch könnte es auch unter anderen Bedingungen entstehen?
Welche Thesen haben Sie dazu?
Hätten wir dieses Interview im Jahr 1910 gemacht, hätte ich vielleicht angenommen, dass es Leben in unserem ganzen Sonnensystem gibt. 1960 hätte ich gesagt, ich weiß es nicht, und 1980 hätte ich gesagt: In unserem Sonnensystem gibt es nur auf der Erde Leben. Heute sage ich wieder, ich weiß es nicht.
Mit "Cassini" haben wir 2006 entdeckt, dass zum Beispiel der Saturn-Mond Enceladus nicht tot ist. Es gibt Geysire und unter den Geysiren einen See von Salzwasser. Damit haben wir Energie, flüssiges Wasser und eine Kohlenstoff-Chemie - die Bedingungen für die Formation von Leben. Ich sage zwar nicht, dass in diesen Gewässern Delfine oder Haie schwimmen. Aber ich sage, dass es in unserem Sonnensystem einen Ort gibt, der alle Bedingungen für Leben enthält, ohne
dass wir damit gerechnet hätten. Und wenn wir dort etwas finden, muss es im Universum noch mehr davon geben, und wenn wir nichts finden, verstehen wir etwas nicht.
Wie gut kennen wir unser eigenes Sonnensystem?
Wir kennen nur einen kleinen Teil unserer Galaxie, unser Sonnensystem nicht besonders gut und auf der Erde kennen wir nicht einmal die Arktis, die Tiefen der Ozeane, den Himalaya oder die Mitte der Wüsten gut. Um unser Sonnensystem so gut zu kennen wie die Erde, benötigen wir vermutlich noch 10.000 Jahre.
Zur PersonAndré Brahic Der französische Astronom und Astrophysiker ist Professor an der Universität Paris Diderot und bekannt für seine Entdeckung der Ringe des Planeten Neptun im Jahre 1984. Seine Pionierarbeiten auf dem Gebiet der Planetologie sind eng verknüpft mit seiner Tätigkeit bei den Weltraumorganisationen Nasa und ESA. Brahic eröffnete jüngst die Vortragsreihe "Universum und Leben" des Institut Français in Wien, bei der Astronomen bis Oktober in Wien referieren werden.