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Im Wald der Toten

Von Solmaz Khorsand

Reflexionen
Auf diese Weise - mit Schildern an Stämmen - wird die Erinnerung an die Opfer wachgehalten.
© Khorsand

An keinem anderen Ort wurden mehr österreichische Juden ermordet als im weißrussischen Maly Trostinez. Jedes Jahr pilgern Angehörige in den Wald, in dem ihre Familien umgebracht wurden.


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Jede Stadt hat einen Ort, den ihre Bewohner meiden. Fast so als bringe es Unglück, wenn man nur seinen Namen ausspricht. In Minsk liegt dieser Ort im Südosten der Stadt, 12 Kilometer entfernt vom schmucken aufgeräumten Zentrum. Einst war der Ort ein eigenes Dorf. Heute ist er Teil der weißrussischen Hauptstadt. "Maly Trostinez, was willst du dort?", fragen die Einheimischen misstrauisch. "Dort gibt es nichts", sagen sie. Plattenbauten. Ein Friedhof. Eine stillgelegte Mülldeponie. Und ein paar arbeitslose Halbstarke, die einen schon einmal anpöbeln, wenn ihnen langweilig ist.

Und es gibt dieses verlassene Waldstück. Eine kleine grüne Oase mitten im Nirgendwo. Blühende Wiesen. Dichte Baumkronen. Idylle pur. Blagowtschina nennen es die Weißrussen. Es bedeutet "Wohlfühlort". Hier an diesem Wohlfühlort haben die Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs Tausende Menschen ermordet. Per Genickschuss oder im Gaswagen. Und sie dann in 34 Gruben im ganzen Wald verscharrt.

Nur 17 Überlebende

Langsam wandert Edna Magder den Schotterweg zur Waldlichtung. Die 73-Jährige muss vorsichtig sein. Am Vortag hat es geregnet und der Weg ist matschig. Magder sieht sich um. Saftiges Grün überall. "Asche ist eben der beste Dünger", sagt sie nüchtern.

Dann steht die kleine rüstige Frau bei der Lichtung. Hier wurde ihre Großmutter ermordet. In einer Grube in diesem Wald. Theresia Hanni Brody, geborene Löwy, die Witwe eines hochrangigen Offiziers aus dem Ersten Weltkrieg. Deportiert am 14. 9. 1942 aus Wien nach Minsk. Ermordet vier Tage später in Maly Trostinez. 13.500 Österreicher wurden in der Blagowtschina getötet. Nur 17 Menschen überlebten.

"Hier wurden die meisten Österreicher als Opfer der Shoa von den Nazis umgebracht", sagt Waltraud Barton, "deswegen ist dieser Ort für Österreich sogar wichtiger als Auschwitz." Immer wieder wird die große blonde Frau diesen Satz wiederholen. Barton hat 2009 den Verein "Initiative Malvine - Maly Trostinec erinnern (IM-MER)" gegründet. Sie soll an die österreichischen Opfer in Maly Trostinez erinnern.

Anfangs wollte die 55-jährige Mediatorin nur ihre eigene Familiengeschichte aufarbeiten: Die Biografie der ersten Frau ihres Großvaters, Malvine Barton, einer Jüdin, von der sich ihr christlicher Großvater hat scheiden lassen, und die 1942 nach Maly Trostinez deportiert wurde. Es war das große Tabu ihrer Familie. Barton forschte weiter. Sie wollte wissen, was es mit dem Familienbaum ihrer Mutter auf sich hatte. Großmutter, Großvater, Tante: Alle gestorben 1942. Mehr stand dort nicht. Irgendwann fand sie - aufgewachsen in einer protestantischen Familie - heraus, dass ihre Verwandten Juden waren. Und nicht irgendwie gestorben waren.

Seit vier Jahren pilgert Barton in das verlassene Waldstück nach Minsk. Und seit vier Jahren begleitet sie eine Delegation. Es sind Angehörige und Interessierte. Jene, deren Familien in diesen Gruben ermordet wurden. Und jene, deren Familien daran beteiligt waren, dass es so weit kommen konnte. Fünf Tage lang wird Barton mit ihnen durch dieses wilde Weißrussland reisen, dessen Sprache sie nicht sprechen. Und wo keiner versteht, was diese Männer und Frauen dazu treibt, ausgerechnet jene Orte zu besuchen, deren Vorstellung immer mit dem Satz endet: "Und hier hat man sie dann ermordet."

Erster Zug aus Wien

Es ist Dienstagvormittag. Die Sonne scheint. Die Vögel zwitschern. Aufmerksam lauscht die Gruppe ihrer weißrussischen Reiseleiterin. Wie sie vom ersten Zug erzählt, der am 28. November 1941 aus Wien hier ankam. Neun weitere Züge sollten folgen. Rund 1000 Personen waren es pro Transport. Drei Tage hat ihre Reise von Wien nach Minsk gedauert. Die deutsche Reichsbahn hat exakt gearbeitet. Fiel die Ankunft eines Zuges auf einen Samstag, stand er zwei Tage lang auf den Gleisen, bis er schließlich am Montag "entladen" wurde.

Anfangs kamen die Züge noch in Minsk an. Die Menschen wurden dann auf Lastwägen nach Maly Trostinez gebracht. Im August 1942 hat man dann die Gleise verlängert. Und die Züge kamen direkt ins Vernichtungslager. Raus aus dem Zug, rein in die Grube.

Stoisch hört Edna Magder zu. Sie ist Veteranin, wenn es um solche Geschichten geht. Der Holocaust ist Teil ihres Lebens. Er war immer da. Bei jedem Geburtstag, jedem Abendessen. Bei jeder Verabredung ihrer Tochter, die sie nach Hause brachte. Immer saßen Hitler und seine Schergen mit am Tisch. Das war ihr Alltag. Das ist ihr Alltag. Geboren und aufgewachsen in Israel, lebt Edna Magder mit ihrem Mann heute in Toronto, Kanada. Oft war die Psychologin in Wien, seit 1986 immer öfter. Damals ist ihre Mutter gestorben, die Frau, die nie wieder einen Fuß nach Wien setzen wollte. Erst seit dem Tod ihrer Mutter hat Edna Magder sich intensiver mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinandergesetzt. In Wien hat sie ihre Tage in Archiven verbracht. Sie wollte alles herausfinden über das Leben ihrer Großmutter. In welcher Straße sie gewohnt hat, in welchem Haus, mit welchen Nachbarn. Und wann sie deportiert wurde. Nun steht sie hier gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer Tochter in diesem Wald. "Ich will das Puzzle endlich lösen", sagt sie. "Das schulde ich meiner Großmutter. Und auch meine Mutter hätte das gewollt."

Es ist 11 Uhr. Die Reiseleiterin ist fertig mit ihren Ausführungen. Es ist Zeit für die Trauerfeier. Die Anwesenden kramen gelbe Schilder hervor. Es sind Schilder mit den Namen jener Menschen, die sie hier verloren haben. Jeder liest seine Namen vor: das Geburtsdatum, den Tag der Deportation und den Tag der Erschießung.

Konzentriert hört Adolf Silberstein jedem Einzelnen zu. In der Hand hält er seine Schilder. "Eigentlich hätte ich hier dabei sein sollen", sagt der 78-Jährige ruhig. Fünf Jahre alt war er, als seine Mutter gemeinsam mit seinen Großeltern deportiert wurde. Er war nicht im Sammellager, als sie seine Familie abholten, er war im Krankenhaus. Eine Mittelohrentzündung hat ihm das Leben gerettet. "Dolfi" haben sie ihn früher immer genannt, seine Verwandten und auch die Kinder im Kinderheim, in dem er den Krieg überlebte. "Vielleicht hat mich mein Vorname gerettet", hat er am Vorabend beim gemeinsamen Abendessen noch lakonisch bemerkt.

Heute nennt ihn niemand mehr Dolfi. Silberstein schaut auf die Schilder seiner Familie. "Es geht mir gut", sagt er noch auf dem Weg zur Lichtung. Nun steht er dort. Vor ihm die Bäume. Die Stimme versagt ihm für einen Moment, wenn er die Namen seiner Verwandten vorlesen soll. "Ich weiß nicht, was da passiert ist, ich dachte immer, ich bin darüber erhaben", wird er später sagen, "es ist doch schon so lange her."

200 Schilder im Wald

Zwei Stunden lang werden sie ihre Schilder aufhängen. Jeder versunken in seinen Gedanken. Die einen erleichtert, etwas abzuschließen, was sie zeit ihres Lebens zu Getriebenen gemacht hat. Die anderen mit Bedauern, dass sie nicht früh genug angefangen haben zu fragen, herauszufinden, was es mit der verschwundenen Großmutter auf sich hatte. Jetzt ist niemand mehr da, den man fragen kann. Nur mehr stumme Dokumente. Und ein kleiner Wald mit Namen. Mit ihren Namen.

Rastlos arbeiten die Männer und Frauen nebeneinander her. Die pensionierte Pharmazeutin, deren Mutter ihr immer nur in der dritten Person von den Bräuchen der Juden erzählt hat, um sie nicht in Gefahr zu bringen, falls "es" wieder passieren sollte; die Schauspielerin, die zum Judentum konvertiert ist, weil sie nie "in die Verlegenheit" kommen wollen würde, ihren Mann und ihre Familie verlassen zu können, um ihre eigene Haut zu retten, falls sich die Geschichte wiederholen sollte. Und die junge Frau, die mit dem Holocaust aufgewachsen ist, und sich immer die Frage stellt: Was hätte ich vor 70 Jahren getan? Hätte ich meine Familie beschützen können?

200 Schilder hängen heute in dem Wald. Einen offiziellen Grabstein für die österreichischen Opfer gibt es in nicht. Dabei haben Architekten längst einen fertigen Entwurf: Ein sechs Meter hoher Grabhügel mit einem Durchmesser von 70 Metern soll in der Blagowtschina entstehen. Der Hügel symbolisiere jene Handvoll Erde, die jedem der 13.500 Toten bei ihrem Begräbnis ins Grab nachgeworfen worden wäre - hätten sie ein Begräbnis gehabt.

Spätestens zum 75. Jahrestag der ersten Deportationen im November 2016 will Waltraud Barton, dass das Projekt realisiert wird. Doch sie weiß: Erinnerung ist keine Privatangelegenheit, sondern Sache des Staates - und die muss richtig inszeniert werden, vor allem in einem Land wie Weißrussland. Bis jetzt hatte die Regierung kein Interesse, ihr Projekt zu bewilligen. Und auch Österreich hält sich in Sachen Unterstützung zurück. Ein bisschen fühlt sich Waltraud Barton wie Antigone, jene Königstochter aus dem griechischen Mythos, die ihren Bruder begraben will - um jeden Preis. "Diese Leute waren Teil der Wiener Gesellschaft und deswegen ist es meine Pflicht, sie zu beerdigen", erklärt sie.

Hitler am Esstisch

Edna Magder ist müde. Das Aufhängen der Schilder war anstrengend. "Ich muss das alles noch verarbeiten", sagt die Kanadierin in klarem Deutsch. Vor ein paar Jahren war sie mit ihrem Mann in Ausschwitz. Sie hat ein Gebet gesprochen und eine Kerze angezündet. Sie dachte, dass ihre Großmutter dort ermordet wurde, und hatte gehofft, mit ihrer Reise einen Schlussstrich ziehen zu können. Vor einem Jahr teilte man ihr mit, dass ihre Großmutter nicht in Auschwitz, sondern in Maly Trostinez getötet wurde.

Wieder begann sie zu recherchieren. Wieder verbrachte sie Tage im Archiv. Und wieder begab sie sich auf die Reise in ein fremdes Land. Fünf Tage lang ist sie durch Weißrussland gereist. Kann sie jetzt den Schlussstrich ziehen? Verabschieden sich Hitler und seine Freunde nun endlich von ihrem Esstisch?

Edna Magder sitzt erschöpft in dem Minivan auf dem Weg zurück ins Hotel. Barton spricht über das Leben der Juden in Wien. Aufmerksam hört Magder zu, wenn Barton erzählt, dass die meisten Juden vor ihrer Deporta-tion in Sammelwohnungen untergebracht worden waren. "Das heißt, die Wohnung, die ich in Wien besucht habe, war gar nicht die meiner Großmutter", murmelt Magder. Sie dreht sich zu Barton. "Meine Reise ist noch nicht zu Ende, oder?" Barton lächelt. "Ist sie denn je zu Ende?"

Solmaz Khorsand, geboren 1985, ist seit 2013 Redakteurin bei der "Wiener Zeitung" und arbeitet als Magazinjournalistin.