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Im Würgegriff der Oligarchen

Von Gerhard Lechner

Politik

Der ukrainische Journalist und Publizist Juri Durkot über die Gründe, warum sich ein kleptokratisches System herausgebildet hat.


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"Wiener Zeitung": Die Nachrichten, die aus der Ukraine kommen, sind auch abseits des Krieges in der Ostukraine nicht immer erfreulich. So berichtete die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", eine räuberische Oligarchie beherrsche den Rüstungssektor in der Ukraine und Präsident Petro Poroschenko sei darin verwickelt. Warum fällt es dem Land so schwer, sich vom Erbübel Korruption zu befreien?

Juri Durkot: Weil sich dieses System etabliert hat. Als 2014 der Krieg ausbrach, gab es die Hoffnung, dass die Oligarchen in dieser kritischen Lage einsehen würden, dass es so nicht weitergehen kann. Mittlerweile ist dieses Zeitfenster aber wieder geschlossen. Es wird schwierig, die Kontrolle über die Oligarchen zu gewinnen. Schließlich stammt auch der Präsident aus ihren Reihen.

Aber hat die Ukraine nicht auch seit der Maidan-Revolution Reformen angestoßen?

Ja, durchaus. So hat man zum Teil den Zugang zu öffentlichen Geldern für die Oligarchen erschwert. Ausschreibungen sind heute viel transparenter. Es gibt aber immer noch jede Menge Probleme. Unterm Strich ist es in den dreieinhalb Jahren seit dem Maidan eher zu einer Umverteilung im Lager der Oligarchen gekommen als zu einer Eindämmung der Macht der Geschäftsleute.

Wie ist die Oligarchie überhaupt entstanden? Was sind das für Leute, die man bei uns als ukrainische Oligarchen kennt?

Die Ursprünge dieses Systems sind Mitte der 1990er Jahre zu suchen. Das war die Zeit, in der die junge postkommunistische Garde begonnen hat, die alte Garde zu verdrängen. Die ukrainischen Oligarchen sind im Öl- und Gasgeschäft reich geworden. Sie haben das russische Öl und Gas weiterverkauft. Die früheren Jungkommunisten, darunter auch Julia Timoschenko, konnten die kommunistischen Seilschaften gut für sich nutzen. Mit den Millionen aus den Geschäften kaufte man sich dann in andere Sparten ein.

Wie ging das vor sich?

Man trieb zum Beispiel Staatsunternehmen mit Absicht in die Pleite, um sie zu einem Spottpreis aufkaufen zu können. Das alles war nur möglich, weil es zu einer Verschmelzung zwischen Wirtschaft und Politik gekommen ist: Die Oligarchen bekamen vom Gesetzgeber, was sie wollten. Ausschreibungen wurden zu ihren Gunsten manipuliert, andere Bieter ausgeschlossen. Das Problem heute ist, dass von diesem System, das in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre entstanden ist, so viele profitieren. Die Oligarchen sind nur die Spitze des Eisbergs. Damit das ganze System funktioniert, braucht es Unterstützer in der Bürokratie. Deswegen ist es auch so schwer, es zu zerstören.

Kann man es überhaupt zerstören?

An einen großen Wurf glaube ich nicht. Aber kleine Schritte sind möglich. Vielleicht kann man auf diese Art und Weise den Einfluss von Oligarchen zumindest eindämmen. Immerhin gibt es jetzt eigene Behörden für den Kampf gegen die Korruption. Das war auch eine der Bedingungen der EU für die Visafreiheit, die den Ukrainern jetzt gewährt wurde. Auch die ukrainische Zivilgesellschaft hat Druck gemacht. Die neue nationale Antikorruptionsbehörde "Nabu" gilt als sauber, als unabhängige Kontrollinstanz. Sie steht nicht unter Kontrolle einer Gruppierung, auch nicht unter der des Präsidenten.

Auch in Russland hat sich ein Oligarchensystem etabliert. Was sind die Unterschiede zwischen den ukrainischen und den russischen Geschäftsleuten?

In Russland ist der Staat stark. Er lässt die Oligarchen machen, was sie wollen, solange sie loyal bleiben. In der Ukraine sind die Oligarchen eigentlich stärker als der Staat. Der Staat ist relativ schwach, und die Oligarchen waren, indem sie wirklich große Teile der Wirtschaft aufgekauft haben, immer der wichtigere Faktor. In Russland ist es so, dass der Staat die Oligarchen für seine Zwecke nutzt, in der Ukraine haben die Oligarchen bisher den Staat für ihre Zwecke genutzt.

Könnte es nicht sein, dass auch der ukrainische Präsident Petro Poroschenko versucht, die Oligarchen für seine Zwecke zu nutzen und eine sogenannte "Machtvertikale" zu errichten, wie sie in postsowjetischen Ländern üblich ist? Immerhin hört man in letzter Zeit Klagen, Poroschenko agiere autoritär.

In der Ukraine funktioniert so ein System nach russischem Vorbild nicht wirklich. Natürlich hat jeder Präsident versucht, seine Kompetenzen zu erweitern. Die ukrainische Verfassung setzt dem aber Grenzen. Der Präsident hat zwar jede Menge Rechte. Er kann aber nicht wirklich durchregieren, weil die Verfassung nicht frei von Widersprüchen ist.

Welchen?

Etwa bei den Gouverneuren. Die werden vom Präsidenten ernannt, sind also von ihm abhängig. Gleichzeitig unterstehen sie in ihrer täglichen Arbeit aber dem Premierminister. Der Einfluss kommt von zwei verschiedenen, einander oft widersprechenden Seiten. Poroschenko ist weit davon entfernt, durchregieren zu können. Der Einzige, der nah dran war, die gesamte Macht im Land zu usurpieren - auch was die Regionalverwaltungen betrifft -, war Ex-Präsident Wiktor Janukowitsch. Bekanntlich hat das aber kein gutes Ende genommen.

Gibt es außer der Situation bei den Gouverneuren noch Widersprüche in der ukrainischen Verfassung?

Ja. Etwa bei den großen Städten. Die unterstehen einerseits der vom Präsidenten ernannten Regionalverwaltung. Sie haben aber auch gewählte Oberbürgermeister. Da sind Konflikte zwischen Bürgermeister und Gouverneur vorprogrammiert, und sie finden auch tatsächlich überall statt. Dann gibt es neben dem Gouverneur noch gewählte Regionalparlamente. Die haben aber nur wenig Macht.

Ist dieser Zentralismus nicht ein großes Problem? Bekanntlich ist gerade die Ukraine ein nicht nur sprachlich heterogenes Land. Würde da nicht mehr Föderalismus helfen?

Tatsächlich gab es nach der Unabhängigkeit Anfang der 1990er Jahre Vorschläge, dass man die Ukraine föderalistisch aufbauen sollte. Die Ängste, dass man durch zu viel Föderalismus den Zerfall des Landes fördert, waren dann aber doch zu groß.

Diese Angst wird seit dem Krieg im Osten des Landes und der Krim-Annexion nicht kleiner geworden sein.

Ja, natürlich. Die Angst, dass zu viel Föderalisierung zum Zerfall des Landes oder zur Abspaltung von Gebieten führen könnte, bezog sich übrigens schon in den 1990er Jahren auf die Krim. Die wollte sich damals schon von der Ukraine loslösen, mit Moskauer Unterstützung. Man hat sich dann auf einen Kompromiss geeinigt, die Krim bekam als einzige Region einen autonomen Status. Aber man hatte dennoch Angst, die östlichen Regionen könnten sich eines Tages auch abspalten wollen.

Also blieb man bei einer zentralistischen Verfassung?

Ja. Dieser Zentralismus entsprach ja auch der sowjetischen Tradition. Bald hat man aber gesehen, dass er nicht funktioniert. Das System zu ändern, wurde mit der Zeit aber immer schwerer: Je länger der Staat als Zentralstaat existierte, desto schwieriger wurde es, Kompetenzen in die Regionen zu verlagern. Die Beamten sitzen heute in der Hauptstadt. Sie sind nicht daran interessiert, dass die Regionen gestärkt werden. Generell ist Föderalismus in der Ukraine heute fast ein Schimpfwort - auch, weil es nach 2004 den Versuch gab, eine föderale Republik im Südosten des Landes zu gründen.

Trotzdem ist die Ukraine zentral schwer zu regieren.

Weil die regionalen Eliten eben immer auch eine Rolle spielen. Sie machen eine Machtvertikale nach russischem oder weißrussischem Vorbild eigentlich unmöglich. Die regionalen Unterschiede sind in der Ukraine ein wichtiger Faktor. Manche meinen, sie schwächen das Land. Andererseits machen sie es auch unmöglich, dass jemand mit harter Hand den Bürgern seinen Willen aufzwingt. 

Juri Durkot (52) ist ukrainischer Journalist und Essayist und lebt in
Lemberg. Er gilt als Kenner der ukrainischen Politik und arbeitet auch
als Übersetzer.