Anschläge von Islamisten nahmen zuletzt drastisch zu, Militärführung reagiert mit brutalem Anti-Terror-Krieg.
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Ismailija. Fast kein Tag vergeht, ohne dass Nachrichten von
Erschießungen, Autobomben, Selbstmordattentätern auf dem
Sinai laut werden. Seit Wochen versucht Ägyptens Armee mit einer groß angelegten Militäroperation, Herrin der Lage zu werden. Bisher mit nur mäßigem Erfolg. Die Halbinsel ist zur Brutstätte von Gewalt und Terror geworden. "Jetzt wissen Sie, warum die Brücke gesperrt ist", sagt der Wächter, der die Schranke zur Brückenauffahrt zwischen Ismailija und dem Sinai bewacht und niemanden durchlässt. Umgeschnallt hat er eine Kalaschnikow.
Letzte Woche sind sechs Polizisten an einem Kontrollpunkt der Stadt erschossen worden. Kurz darauf explodierte auf dem Sinai eine Autobombe. Es sei für die Terroristen ein Leichtes, "mit Sprengstoff über die Brücke zu fahren und das Ding in die Luft zu sprengen", meint der Wächter, der Ahmed heißt. Die Attraktion der 750.000-Einwohner-Stadt Ismailija wird durch ihn außer Kraft gesetzt. Als die gigantische Stahlkonstruktion über den Suez-Kanal vor 12 Jahren eingeweiht wurde, wurde sie zum Anziehungspunkt und bedeutete für viele Ägypter den Aufbruch in die Moderne. Für zwanzig Pfund (etwa zwei Euro) fuhren Familien über die Schrägseilbrücke auf den Sinai und genossen die wunderbare Aussicht auf den Kanal und die Schiffe.
"Ich will hier nicht mehr weiterleben", sagt eine verzweifelte Stimme am Telefon, "ich will hier raus, weg aus Ägypten!" Amr Ali ist Polizist und seit vier Jahren im Einsatz auf dem Sinai. Er stand an der Grenze zum Gazastreifen, als Israel im Januar 2009 Krieg gegen die Hamas führte. Er war bei dem Sturm der Palästinenser auf den geschlossenen Übergang Rafah dabeis, als sechs ägyptische Soldaten getötet wurden und sich die Hamas-Regierung in Gaza bei den Ägyptern in Kairo entschuldigen musste. Und er ist jetzt wieder dabei, wenn Armee und Polizei um die Sicherheit auf dem Sinai und im ganzen Land kämpfen. "Fünfzehn meiner engsten Kollegen sind schon getötet worden", begründet der 34-Jährige seine Resignation. "Jeden Tag werden wir angegriffen, jeden Tag sterben einige von uns."
Seit dem Sturz des Präsidenten und Vertreters der Muslimbrüder, Mohammed Mursi tobt auf dem Sinai ein erbitterter Kampf gegen "Terroristen", wie die Armeeführung sagt. "Sie haben es ganz bewusst auf uns abgesehen", erzählt Ali über den Alltag in Al-Arish, der Mittelmeerstadt, in der er zurzeit stationiert ist. "Sie fahren mit ihren Autos an unsere Polizeifahrzeuge heran und schießen auf uns oder es explodiert ein Sprengsatz direkt neben unserem Fahrzeug." Unter Mubarak habe es auch schon Kriminalität auf dem Sinai gegeben. Es wurde geschmuggelt, mit Drogen gehandelt, Autos wurden gestohlen. "Aber jetzt", empört sich der Polizist, "sind die alle bewaffnet, bis auf die Zähne." Seit dem Ausbruch der Revolution Anfang 2011 ist der Sinai zur Brutstätte von Gewalt und Terror geworden. Wer "die" sind, kann Amr Ali nicht sagen. Nur dass ihre Waffen aus Libyen kämen.
Die Schlange vor der Fähre über den Suez-Kanal ist lang. Da die Brücke von Ismailija gesperrt ist, muss nun alles über die beiden Fährverbindungen laufen. Dort herrscht Hochbetrieb. Jedes Mal, wenn ein großes Containerschiff den Kanal entlangfährt, muss die Fähre warten. Doch so ist die Zufahrt zur Halbinsel, die Afrika mit Asien verbindet, strategisch bestens zu kontrollieren. Entsprechende Kontrollen finden am Fährhafen statt. Weiter unten, in der Nähe der Stadt Suez, gibt es einen Tunnel, der unter dem Kanal durchführt und ebenfalls streng kontrolliert wird. Oben, kurz vor Port Said, dann noch eine Brücke. Mehr Zugänge hat der Sinai nicht. Deshalb galt die 60.000 Quadratmeter große Halbinsel immer als sicher. Internationale Konferenzen mit hochrangigen Politikern fanden in der Ära Mubarak stets dort statt.
Beiden Seiten für die Eskalation verantwortlich
Das Machtvakuum, das durch die Revolution entstand, hatte auch Auswirkungen auf die Sicherheit. Die Polizei verweigerte über Monate ihren Dienst, die Militärs waren mit dem Regieren beschäftigt. Der Sinai hatte plötzlich offene Türen. Und Kurzzeitpräsident Mursi tat auch nichts, um die Lage zu verbessern. Im Gegenteil. Die Kriminalitätsrate im Land stieg an.
"Man kann nicht sagen, dass die Muslimbrüder Terroristen sind", antwortet Nadin Sherif auf die Frage, ob denn die Maßgabe der Übergangsregierung und des Militärs, einen Kampf gegen den Terror zu führen und dabei tausende von Muslimbrüdern zu verhaften, gerechtfertigt sei. Die Chefin des Kairoer Instituts für Menschenrechtsstudien wirft den Islamisten jedoch vor, Gewalt und Terror zu begünstigen. Sie erinnert an den Vorfall während der Amtszeit Mursis, als am Grenzübergang Rafah Soldaten von "Kriminellen", wie es damals hieß, gekidnappt wurden. Auf Intervention des Präsidenten kamen sie schließlich frei. Das zeige, so Sharif, wie eng die Muslimbrüder mit der Szene dort verbunden seien. Ihre Organisation ist eine der wenigen, die die Gewaltanwendung auf beiden Seiten kritisiert. So trüge die unverhältnismäßige Brutalität der Sicherheitskräfte zur Eskalation der Lage erheblich bei, sagt sie. Eine Deeskalationsstrategie von Polizei und Armee sei aber nicht in Sicht.
Solange ein politisches Konzept für den Sinai fehlt, werden der Polizist Amr Ali und seine Kollegen also weiterhin mit brachialer Gewalt gegen "Terroristen" kämpfen und nicht wissen, wer eigentlich ihr Gegner ist.