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Im Zeichen des Kaninchens

Von Christian Hoffmann

Reflexionen
© Corbis

Die Zeit ist wirklich etwas Rätselhaftes. Die Menschen verwenden große technische Raffinesse darauf, schneller zu werden, und klagen zugleich ständig darüber, immer weniger Zeit zu haben. Das hektische Kaninchen mit der Uhr, das seinerzeit die kleine Alice ins Wunderland geleitete, ist das Sinnbild dieses Zustands.


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"Ach, du meine Güte! Ich komm ja zu spät!", hört Alice das Kaninchen sagen. Sie sitzt neben ihrer Schwester auf einer Bank im Park, sieht das eilige Tier eine Uhr aus seiner Westentasche ziehen und noch schneller hoppeln. Und als sie dann aufspringt und ihm folgt, gerät sie unversehens ins Wunderland. Dort wird sie Uhren kennenlernen, die nur Tage zählen, und außerdem erfahren, dass der Hutmacher beinahe geköpft worden wäre, weil er nach Ansicht der Kartenkönigin die Zeit totschlagen wollte.

Die Geschichte der kleinen Alice ist sehr verwirrend, wie alles, das mit der Zeit zu tun hat, und man kann sich vorstellen, wie verwirrend sie erst wäre, hätte Lewis Carroll sie nicht im Jahr 1865 geschrieben, sondern im Zeitalter von Relativitätstheorie, Düsenjets und Mobilfunk. Aber vielleicht hätte die moderne Alice zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Kaninchen mit Headphones und lauten Selbstgesprächen gar nicht so bemerkenswert gefunden, dass sie es der Mühe wert gefunden hätte ihm nachzulaufen. Wem fällt heutzutage jemand auf, der hektisch durch einen Park rennt und Selbstgespräche führt?

Das Leben hat sich gewaltig beschleunigt seit den Tagen von Carroll, da gerade erst einmal die Eisenbahn mit Höchstgeschwindigkeiten von knapp 50 km/h erfunden worden war. Wie der Sender "3sat" anlässlich eines Schwerpunktes zum Thema Zeit berichtete, soll sich die Transportgeschwindigkeit allein im Laufe des 20. Jahrhunderts um den Faktor 102 gesteigert haben, die der Kommunikation um den Faktor 107. Auch wenn man nicht im Detail nachfragen will, wie solche Zahlen zustande kommen, entsprechen sie doch ganz gut dem allgemeinen Gefühl von radikaler Beschleunigung.

Mancher ist sogar davon überzeugt, dass dieser Wahnsinn Methode hat. Der Soziologe Hartmut Rosa hat erst vor ein paar Jahren ein gewaltiges Werk zu dem Thema vorgelegt: "Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne", sozusagen einen Überblick über das, was seit den Tagen des Kaninchens geschah. Für die "stumme normative Gewalt" des modernen Lebens hält er die fortwährende, unaufhaltsame Beschleunigung, die auch das private Leben bis in die intimsten Bereiche erfasse, eine Art Karussell, das sich immer schneller und schneller drehe. Unter anderem zitiert er eine Zeitbudgeterhebung, der zufolge "die Zahl der 18- bis 64-jährigen Amerikaner, die angeben, sich immer in Eile bzw. unter Zeitdruck zu fühlen, zwischen 1965 und 1992 etappenweise von 24 auf 38 % gestiegen ist, während die Zahl derjenigen, die sich fast nie unter Zeitdruck fühlen, im gleichen Zeitraum von 27 auf 18% gefallen ist".

Die angehaltene Zeit

Das Kaninchen, das am Beginn der Abenteuer im Wunderland stand, hat natürlich keine Gelegenheit, solche monumentalen Gedanken zu denken. Dazu hätte es in seiner Hast einfach keine Zeit. "Ach, du meine Güte!", stöhnt es in der immer noch bezaubernden, alten Übersetzung von Liselotte Remané, "ach, du meine Güte! Ich komm ja zu spät!", und hoppelt hastig weiter. Wie es ihm wohl erginge, wenn man ihm mitteilte, dass es die Zeit vielleicht gar nicht gibt? - Da würde das arme Kaninchen wahrscheinlich vor Schreck umfallen. Im Jahr 1863 schienen nämlich die physikalischen Theorien von Isaac Newton noch unerschütterlich: "Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne irgendeine Beziehung auf einen äußeren Gegenstand."

Da war noch keine Rede von Zeit- und Raumkrümmungen und von Uhren, die aufeinander zu rasen und dabei unweigerlich eine abweichende Zeit anzeigen. Da war noch keine Rede von der Relativitätstheorie. "Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind nur Illusionen, wenn auch hartnäckige", heißt es in einem Brief von Albert Einstein, dessen Arbeiten die alte Weltsicht auf den Kopf gestellt hatten. Nach seiner Theorie, die längst die moderne Welt bestimmt, gibt es nämlich die absoluten Raum- und Zeitsysteme nicht mehr, an die die Menschen so lange geglaubt hatten. Je nach Standort eines Beobachters in einem Bezugssystem können andere Messwerte für Zeit und Raum ermittelt werden. Deswegen gibt es auch keine absolute Geschwindigkeit eines Betrachters und schon gar nicht eine absolute Zeit.

Was würde das Kaninchen sagen, wenn es erführe, dass die Zeit umso langsamer vergeht, je schneller man unterwegs ist? Dieses Phänomen, das Zeitdilatation heißt und sich aus Einsteins Spezieller Relativitätstheorie ergibt, wurde im Jahr 1971 erstmals experimentell bewiesen. Damals saßen zwei Herrn, Richard Keating und Joseph Hafele, mit Atomuhren in modernen Düsenjets und rasten um die Erde. Dabei stellten sie tatsächlich die Abweichung der von ihnen gemessenen Zeit von der der stationären Erdenbürger fest, die sich aus Einsteins Theorie ergab.

Aus der Relativitätstheorie folgt nicht nur, dass die Zeit umso schneller vergeht, je rascher sich der Beobachter selbst bewegt und umgekehrt. Nein, die Schlussfolgerungen, zu denen die modernen Physiker kommen, sind noch viel schlimmer. Sie bezweifeln mittlerweile sogar, dass man sinnvoll davon reden könnte, dass "die Zeit fließt". Zwar könne man verschiedenen Ereignissen Zeitvariablen zuordnen, aber es sei wenig sinnvoll, einen dieser Zeitpunkte von den anderen als gegenwärtig und auf die-se Art als besonders real hervorzuheben. So entstand die verwirrende Vorstellung der Blockzeit, in der verschiedene Zeitpunkte einfach nur nebeneinander liegen und gleichermaßen als real angesehen werden, ein System, in dem das Fließen der Zeit eine pure Illusion ist, in dem Uhren nur den Abstand von Zeitpunkten angeben, wie Maßbänder räumliche Distanzen messen.

Uhren im Gehirn

Nein, nein, das weiße Kaninchen, das durch den Park hetzt und seufzt: "Ach, du meine Güte! Ich komm ja zu spät!", hat keine Zeit für Gedanken über so etwas wie eine Blockzeit. Es ist eindeutig ein Fall für den Chronobiologen. Diese medizinischen Spezialisten behaupten nämlich, so etwas wie Intervalltimer im Nervensystem entdeckt zu haben, Nervenzellen, die wie innere Uhren arbeiten. Warren Meck von der Universität in Durham, USA, befasst sich mit sogenannten Streifenkörpern im Gehirn, in den Basalganglien, um ganz genau zu sein, die daran beteiligt zu sein scheinen, Zeitabläufe im Gehirn zu messen. Wenn der Gehirnbesitzer zum Beispiel ein Auto fährt und sieht, dass eine Ampel vor ihm auf Gelb schaltet, dann könnten diese Zellen dafür verantwortlich sein, dass er eine Vorstellung von dem Zeitintervall hat, das zum Überqueren der fraglichen Kreuzung zur Verfügung steht.

Leider sind diese inneren Uhren, die für hektische Zustände wie die des Kaninchens zuständig sein könnten, nicht allzu zuverlässig. Man hat beobachtet, dass sie unter dem Einfluss zum Beispiel von Marihuana nachweislich langsamer ticken und Versuchspersonen Zeitspannen systematisch falsch einschätzen. Eine ähnliche Wirkung, wenngleich in umgekehrter Richtung, wurde unter dem Einfluss von Kokain festgestellt, das offenbar den Gang der inneren Uhren beschleunigt. Auch starke Emotionen oder die Ausschüttung von Hormonen wie Adrenalin können die innere Zeitwahrnehmung ganz aus dem Takt werfen, dann scheinen Sekunden unendlich lang zu werden oder Stunden im Flug zu vergehen.

Daneben soll es im menschlichen Nervensystem auch eine Uhr geben, die nach dem Wort "circa" circadian genannt wird. Sie reguliert Abläufe im Rhythmus von 24 Stunden, Körpertemperatur, Blutdruck, Hormonspiegel. Gesteuert wird sie von einem kleinen Nervenbündel, das etwa so groß wie ein Reiskorn ist und über der Kreuzung der Sehnerven sitzt, über dem Chiasma. Folgerichtig wird es suprachiasmatischer Nucleus, oder SCN, genannt. Es erhält offenbar aus der Netzhaut des Auges Informationen über die Helligkeit in der Umgebung, und zwar unabhängig von anderen Aktivitäten des Auges wie dem Sehen.

Es kommt allerdings noch schlimmer: Das moderne Kaninchen würde nicht mit einer sondern mit vielen Uhren hantieren. Bereits in den 90er Jahren hat man Gene entdeckt, die den Zeitrhythmus verschiedener Zellen steuern. So scheint mittlerweile festzustehen, dass in jedem Gewebe eigene innere Uhren ticken, die verschiedene Organe wie zum Beispiel Herz oder Leber überwachen. Die circadiane Uhr soll also Ordnung in dieses innere Ticktack bringen, was in Situationen wie dem Jetlag oder bei Schichtarbeit nicht immer optimal gelingt. Und manche Spezialisten für diese inneren Uhren wie Alfred Lewy von der Oregon Health & Science University in Portland nehmen auch an, dass ein Durcheinander im Rhythmus der inneren Uhren für die sogenannte Winterdepression verantwortlich ist, weil Tagesabläufe des modernen Menschen in dieser Zeit nicht mit demRhythmus von Hell und Dunkel in der Natur übereinstimmen und damit Verwirrung in das Konzert der inneren Uhren kommt.

Vor diesem Hintergrund ist der Rat, den der Hutmacher der kleinen Alice bei der immerwährenden Teeparty im Wunderland gibt, gar nicht so verkehrt. Sie solle sich mit Frau Zeit in gutes Einvernehmen setzen, sagt er. Die "hat nämlich etwas dagegen, geschlagen oder gehalten zu werden. Aber wenn du dich mit ihr gut verstehst, macht sie mit der Uhr fast alles, was du willst."

Lesetipps.

Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die

Veränderung der Zeitstrukturen in der

Moderne. Verlag Suhrkamp 2005

Lewis Carroll: Alice im Wunderland/Alice im Spiegelland. Übersetzt von Liselotte Remané, Reclam Leipzig, 1995

Phänomen Zeit. Spektrum der Wissenschaft Spezial 1/2003

www.spektrum.de