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Im Zwiespalt

Von Veronika Eschbacher

Politik

Eine Zwischenbilanz zu sechs Monaten Poroschenko als Präsident der krisengeschüttelten Ukraine.


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Kiew. Er hatte lange mit seiner Bewerbung gezögert. Nur wenige Tage vor Ende der Nominierungsfrist zur Präsidentschaftswahl Ende Mai entschied sich Petro Poroschenko, sich der schier uferlosen Aufgabe anzunehmen: die Ukraine aus der politischen und ökonomischen Gefahrenzone zu bringen. Die Ukrainer trauten dem "politischen Chamäleon" - so wird er gerne tituliert , da er unter mehreren seiner Vorgänger verschiedenste Aufgaben erfüllt hatte - diese Aufgabe am ehesten zu und wählten ihn bereits im ersten Wahlgang mit 54 Prozent der Stimmen ins Amt. Sechs Monate nach seiner Angelobung sind die Meinungen über ihn in dem krisengeschüttelten Land gespalten.

Angetreten war der Präsident Anfang Juni mit dem Versprechen, für Frieden zu sorgen. In den verschiedenen Wellen der "Anti-Terror-Operation", die noch von Übergangspräsident Aleksandr Turtschinow angeordnet worden war, um nach Unruhen in verschiedensten Städten die Kontrolle im Osten des Landes wiederzuerlangen, stand er zwar immer kompromisslos hinter dieser. Gleichzeitig gestehen auch Kritiker Poroschenko zu, dass er unablässlich mit dem Versuch beschäftigt war, den Krieg zu stoppen. Freilich erfolglos: Seit Mitte April kamen in dem Konflikt laut UN-Angaben mehr als 4300 Menschen ums Leben.

Auch wenn der Wunsch nach Frieden und Ruhe überall im Land spürbar ist - ein großer Teil der Ukrainer macht Poroschenko die bisher nicht gelungene Befriedung des Donbass nicht zum Vorwurf. Zu viele externe Faktoren spielten hier mit, die er nicht beeinflussen könne, wird er entschuldigt. Viele trauen ihm weiterhin zu, die Geschehnisse zum Guten wenden zu können.

Anders ist die Situation in den umkämpften Gebieten. Hier wird Poroschenko oft als "Mörder" bezeichnet, der den gesamten Donbass vernichten wolle. Aber auch in Kiew ist bei Gegnern der Revolution zu hören, er sei nicht Präsident der Ukraine, sondern "General-Gouverneur einer Kolonie der USA und EU", dem durch die Abhängigkeit vom Westen und innenpolitischen Machtkämpfen alle Hände gebunden seien.

Versuchte Dominanz

Poroschenko, der Self-Made-Milliardär, versuchte in den vergangenen Monaten trotz der Myriade an Aufgaben - von der Abwendung eines drohenden Kriegs mit Russland, der Umsetzung radikaler Wirtschaftsreformen, die von der Bevölkerung geforderte Lustration und die Bekämpfung radikaler Kräfte in den pro-westlichen Reihen, um nur einige zu nennen - diese praktisch im Alleingang zu bewältigen und die ukrainische Politik zu dominieren.

Obwohl er weiß, wie wichtig ein Interessenausgleich in der Ukraine ist und die Schaffung einer Balance zwischen der Bevölkerung und den Oligarchen, zwischen Russland und dem Westen, wäre er fast in die gleiche Falle wie sein geschasster Vorgänger Wiktor Janukowitsch gestolpert. Verhindert hat die von ihm versuchte Machtkonzentration auf seine eigene Person einerseits die noch im Februar durchgeführte Rückkehr der Ukraine zur Verfassung von 2004, durch die das Amt des Präsidenten viele Vollmachten verlor, die Janukowitsch noch innehatte.

Andererseits hat ihn die Bevölkerung selbst in die Schranken gewiesen, indem sein Block bei den Parlamentswahlen zwar die meisten Sitze erhielt, aber doch weniger Stimmen als erwartet. Dies war eine große Warnung, dass die Ukrainer nicht mehr unter der Dominanz einer Person leben wollen. Sie wollen Diversifizierung der politischen Kräfte und Übereinkünfte, die dem Land helfen, vorwärts zu kommen.

Ukrainer hadern mit sich selbst

Zugute hält man Poroschenko seine außenpolitischen Erfolge. Praktisch ohne Unterlass bereist er EU-Länder, Brüssel, die USA oder diese Woche asiatische Länder, um sich ihre Unterstützung zu sichern. "Endlich haben wir einen Präsidenten, für den man sich international nicht schämen muss", sagt Oleg aus Dnipropetrowsk. Dennoch wurmt ihn, dass ein Dreivierteljahr nach den Höhepunkten der Revolution weiterhin vieles im Argen liege. Die Korruption sei keinen Deut besser geworden, "jetzt teilen acht Gruppierungen das Geld unter sich auf, nicht eine wie vorher", Posten würden nach wie vor nicht nach Qualifikation, sondern Bekanntschaft verteilt. Von der wirtschaftlichen Situation wolle er gar nicht erst sprechen.

Andere empört, dass die Ukraine nun überall als Bittsteller auftrete und nicht erst selbst seine Hausaufgaben erledige. Der Stillstand bei den Reformen wird aber nur in den seltensten Fällen dem Politiker Poroschenko direkt zugeschrieben, sondern viel eher der Gesamtlage. Und an dieser gibt sich die Bevölkerung durchaus eine Mitschuld: "Wir sind nun mal ein dummes Volk, uns ist nicht zu helfen", ist da zu hören. Die Ukrainer hadern mehr mit sich selbst und einer sich selbst unterstellten Reformunfähigkeit als mit Poroschenko. Diesem gestehen seine Unterstützer - noch - geduldig zu, es brauche Zeit, er könne nicht alles auf einmal schaffen.

Andere hatten aber nie Geduld mit Poroschenko. "Ja, er hat hunderte Baustellen und viele, die ihm Knüppel vor die Beine werfen, aber ich habe kein Mitleid mit ihm", sagt Andrej, ein 40-jähriger Angestellter aus Kiew. "Sehen Sie sich das Land heute an. Er ist einer der, die die Ukraine umgebracht haben." Poroschenko unterscheide sich kein bisschen von der ehemaligen Führung, sagt Andrej und verweist darauf, dass der Sohn des Präsidenten unlängst als Abgeordneter ins Parlament eingezogen ist. Und die von Poroschenko initiierte Nominierung von drei Ausländern als Minister sei "entwürdigend" und eine "Bankrotterklärung für die Ukraine."

Auch Experten sehen die bisherige Performance Poroschenkos ambivalent. "Was bisher passierte, war nur die Planung von grandiosen Reformen", sagt der Politanalyst Balasz Jarabik von Carnegie Europe zur "Wiener Zeitung". Trotz manch guter Ansätze sei von einer Umsetzung bisher wenig zu sehen. Zudem fehle es an einer realistischen Prioritätensetzung. Poroschenko hätte Nato- und EU-Mitgliedschaft auf die Top-Agenda gesetzt - etwas, das völlig unrealistisch sei und zudem nicht in seiner Hand liege. "Wichtiger wären kleinere Schritte, die das Vertrauen der Bürger in Regierung und Staat wieder aufbauen, sei es durch die Reform der Polizei oder der Sozialleistungen", so Jarabik. 2015 werde kein einfacheres Jahr für ihn. "Die Ukraine steuert noch auf keine normalen Zeiten zu."