An einem Septemberabend des Vorjahres geht die 38-jährige Sabine Lang-Sterowitz* Joggen. Am Zebrastreifen bei der Kreuzung Schwarzspanierstraße-Währingerstraße wird sie von einem Mercedes-Fahrer geschnitten. Erbost schlägt sie mit der flachen Hand aufs vorbeifahrende Auto. Der Fahrer steigt aus und verpasst ihr eine Ohrfeige. Ein Fall für den Außergerichtlichen Tatausgleich.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 22 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Das weite Land", "Brüderlein Fein", "Die Teuflische Einfahrt", "Der Partyschreck" - was am Clip-Chart im Büro des Vereins Neustart in der Hahngasse in Wien IX notiert ist, klingt nach Titelvorschlägen für eine neue Staffel der Lindenstraße. Doch hinter den launigen Titeln stecken die Fälle, die von den Konfliktreglern des Vereins Neustart - ehemals Verein für Bewährungshilfe und soziale Arbeit - kommende Woche dem Außergerichtlichen Tatausgleich (ATA) zugeführt werden sollen: Nachbarschaftsstreitigkeiten, Beziehungsprobleme, die in ein Delikt ausmünden, Raufereien im Straßenverkehr oder im Wirtshaus.
"So ein Konflikt klingt oft banal", erklärt Leiter Norbert Koblinger, "aber dahinter stecken oft private Lebenskatastrophen". Im Fall von Sabine Lang-Sterowitz war es zwar keine Lebenskatastrophe - ärgerlich war der handgreifliche Vorfall aber allemal: "Ich war so wütend über die erlittene Demütigung und den Schmerz, dann dieses Gefühl der Ohnmacht und auch die Kränkung als Frau - weil bei einem Mann hätte er sich das sicher nicht getraut. Noch dazu war ich im Recht, bin bei Grün über den Zebrastreifen gegangen." Dann die Unannehmlichkeiten: Ein kurzer Aufenthalt im AKH, um die Nase zu untersuchen, eine Aussage bei der Polizei - "ich wollte mir das einfach nicht gefallen lassen" - und eine Einvernahme durch die Polizei: "Der Mann hat mich nämlich wegen Sachbeschädigung angezeigt".
Der ATA ist das älteste der vier Diversionsinstrumente: Von1985 bis 1987 dauerte der erste Modellversuch - damals auf Jugendliche beschränkt. Am 1.1.1989 wurde er ins Jugendgerichtsgesetz eingebaut. Ins Erwachsen-Strafrecht wurde der ATA - ebenfalls nach jahrelangen Modellversuchen - mit Anfang 2000 übernommen. Während im Strafprozess normalerweise täterorientiert gearbeitet wird, ist es die Aufgabe des ATA, zwischen Täter und Opfer zu vermitteln. Der erlittene Schaden soll direkt wieder gut gemacht werden. Persönlich miteinander konfrontiert, haben Täter und Opfer Gelegenheit, abseits vom Strafprozess die Sache zu bereinigen. Wie bei allen Instrumenten der Diversion, spart sich der Täter - wenn der ATA gelingt - das Strafverfahren, eine mögliche Verurteilung und die Vorstrafe. Das Opfer kommt im Idealfall wesentlich leichter und vor allem auch schneller zu seinen Forderungen, und hat darüber hinaus Gelegenheit, sich direkt mit dem Täter auszusprechen.
Sabine Lang-Sterowitz hat die Konfliktregelung in guter Erinnerung. Die direkte Konfrontation mit dem Täter im Büro der Konfliktregler scheint bei beiden einiges ausgelöst zu haben. "Er war völlig überrascht, als er mich gesehen hat, hat mich eine Dame genannt, was interessant war, weil bei seiner Aussage bei der Polizei hat er ja angegeben, dass ein paar "Punks" auf sein Auto hingeschlagen hätten. Umgekehrt hat auch er für mich ganz anders ausgeschaut als an jenem Abend. Kleiner und jünger." Zu dritt sei man dann zusammengesessen, jeder habe seine Version erzählt, Angst vor dem Mann, der ihr zwei Monate zuvor eine "gezunden" hat, habe sich überhaupt nicht eingestellt.
Was in der Theorie gut klingt und auch bei den beteiligten Praktikern kaum auf Kritik stößt, hat eine Schattenseite. "Seit einem Jahr bekommen wir weniger und weniger Fälle", kritisiert Koblinger, "während wir seit 1985 eine stetige qualitative und quantitative Steigerung an Fällen hatten, verzeichnen wir in den letzten zwei Jahren einen enormen Abschwung." Hatte die Staatsanwaltschaft im langjährigen Durchschnitt 280 bis 300 Fälle an die Konfliktregler überwiesen, lag man 2001 bei lediglich 67 Fällen. "Es ist tatsächlich absurd", moniert Koblinger, "bevor der ATA Teil der StPO wurde, haben Richter und Staatsanwälte gesagt: ,Solange das noch nicht Gesetz ist, brauchen wir´s nicht machen', und jetzt haben wir das Gesetz, und keiner wendet es an." Koblinger befürchtet: "Wenn das so bleibt, werden wir Mitarbeiter verlieren".
Tatsächlich dürfte der ATA hauptsächlich zu Lasten der Geldbußen verlieren. Letztere, mit Abstand am häufigsten angewandte diversionelle Maßnahme, ist in der Handhabung weit unkomplizierter als das komplexe, zeitintensive System eines Täter-Opfer-Ausgleichs und bringt zudem millionenschwere Einnahmen für den Finanzminister. Ein Umstand, den auch der Wiener Universitäts-Professor Frank Höpfel bei der laufenden Richtertagung in Ottenstein kritisierte. Höpfel im Gespräch mit der "Wiener Zeitung": "Auf dem Altar des Nulldefizits werden kriminalpolitische Ideen geopfert. Die Staatsanwaltschaft ist aber nicht dazu da, den Fiskus zu füttern." Was aber kann getan werden um dem ATA zu mehr Popularität zu verhelfen? "Durch Werbung und Ermutigung" müsste es gelingen, dass die Staatsanwälte das Service und das Know-How der Geschäftsstellen für Bewährungshilfe benützen, so wie es das Gesetz anbietet, hofft der Strafrechtler.
Was Koblinger besonders schmerzt, ist der Rückgang bei den "situativen Konflikten", das sind jene Fälle, wo Täter und Opfer aufeinanderprallen, ohne sich zuvor gekannt zu haben: "Da setzt sich bei den Staatsanwälten offenbar die Ansicht durch, wo es keine Beziehung gibt, ist auch keine Konfliktaufarbeitung nötig." Dabei zielte der ATA von Anbeginn an auch auf solche Konflikte ab, sei eigentlich für diese konzipiert worden.
Sabine Lang-Sterowitz* jedenfalls ist mit der gütlichen Einigung der Affäre hochzufrieden und würde den ATA jedem weiterempfehlen. Nicht nur wegen der insgesamt 14.000 S (Schmerzengeld plus Anwaltskosten), die ihr vom Täter als Wiedergutmachung gezahlt wurden, sondern weil er eingesehen hat, dass er im Unrecht war. Und "weil er sich glaubhaft bei mir entschuldigt hat".
*Name von der Redaktion geändert