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Immer mehr Menschen kurzsichtig

Von Frank Ufen

Wissen
Was sind die kleinsten Buchstaben, die Sie lesen können?Sehtest beim Augenarzt.
© © © AB Still Ltd/Science Photo Library/Corbis

Landkinder sehen besser, weil sie | mehr Zeit im Freien verbringen.


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Marne/Holstein. Ein merkwürdiges Phänomen: Weltweit steigt die Zahl all jener, die sich mit kurzsichtigen Augen durchs Leben schlagen müssen. Und zwar so schnell, dass es nicht an genetischen Mutationen liegen kann.

Frank Schaeffel, Leiter der Sektion für Neurobiologie des Auges des Universitätsklinikums Tübingen, schätzt, dass sich das Heer der Kurzsichtigen in skandinavischen Ländern von 1968 bis 2000 nahezu verdreifacht hat. Dort seien nunmehr rund 35 Prozent der Studentinnen und Studenten kurzsichtig, in Großbritannien seien es gar mehr als 50 Prozent.

Solche Zahlen können in Südostasien nicht schockieren. In Taiwan sind 60 Prozent der 11- bis 13-Jährigen kurzsichtig, während es vor 30 Jahren bloß 20 Prozent waren. Und in Singapur hat die Kurzsichtigkeit (Myopie) sogar ein Ausmaß angenommen, dass der Armee und der Polizei allmählich die Bewerber für Jobs ausgehen, die scharfe Augen erfordern.

Licht spielt Schlüsselrolle

Landkinder leiden jedoch wesentlich seltener an Myopie als Stadtkinder. Während in den ländlichen Regionen Chinas rund 20 Prozent der Bevölkerung kurzsichtig sind, sind es in der Metropole Hongkong 80 Prozent. Bekannt ist, dass Kinder weniger Risiko haben, kurzsichtig zu werden, je mehr Zeit sie im Freien verbringen.

Man vermutet, dass die Helligkeit des Tageslichts - an einem sonnigen Tag kann die Lichtstärke 30.000 bis 40.000 Lux betragen - hier eine Schlüsselrolle spielt. Durch helles Licht wird die Produktion des Botenstoffs Dopamin in der Netzhaut angekurbelt, der das Wachstum des Augapfels hemmt. Den Augapfel daran zu hindern, übermäßig zu wachsen, ist erforderlich, da jeder Millimeter Überlänge das Auge um rund 2,7 Dioptrien kurzsichtiger macht. Studien am Tiermodell sprechen für die Vermutung, dass Kurzsichtigkeit allein schon durch einen Mangel an Tageslicht hervorgerufen werden kann.

Jüngst haben zwei Mitarbeiter Schaeffels, Regan Ashby und Arne Ohlendorf, diesbezügliche Tests mit Hühnerküken durchgeführt. Den Küken wurden Mattbrillen aufgesetzt, die nahes Sehen vortäuschen. Jeden Tag wurde den Tieren für 15 Minuten die Brille abgenommen. Während der Viertelstunde kam die Hälfte der Küken an die Sonne. Die anderen blieben im Labor, wo sie künstlichem Licht mit einer Stärke von 500 Lux ausgesetzt waren.

Das eindeutige Ergebnis: Bei den Küken, die bei Kunstlicht aufwuchsen, wurde doppelt so häufig Kurzsichtigkeit diagnostiziert wie bei jenen, die täglich eine Dosis Sonnenlicht erhielten. In weiteren Versuchen wurden Scheinwerfer mit der Beleuchtungsstärke von 15.000 Lux eingesetzt. Die enorme Helligkeit wirkte sich auf die Augen der Hühner ähnlich wohltuend aus.

Schon 652 vor Christus - zur Zeit der Tang-Dynastie - wurde in China gemutmaßt, dass das Lesen bei schummrigem Licht kurzsichtig machen könnte. Doch so einfach ist die Sache nicht. "Viele epidemiologische Studien", erklärt Schaeffel, "zeigen, dass Lesen und Computerarbeit zwar mit Kurzsichtigkeit zusammenhängen, aber nicht so direkt, wie man vielleicht erwarten würde. Der Faktor ,Naharbeit’ erklärt nur einige Prozent der Wahrscheinlichkeit, kurzsichtig zu werden."

Doch eines ist laut Schaeffel ziemlich sicher: Kinder laufen desto mehr Gefahr, kurzsichtig zu werden, je länger und intensiver sie aus einem extrem kurzen Abstand von weniger als 30 Zentimeter lesen. Als plausibelster Grund dafür gilt, dass sich das Auge bei sehr geringem Leseabstand so einstellen muss, dass der Brennpunkt knapp hinter der Netzhaut liegt - weshalb es dann versucht, diese Verschiebung auszugleichen, indem es in die Länge wächst. Experimente mit Meerschweinchen und zwei Affenarten schienen diese Hypothese zunächst zu bestätigen, doch eine Langzeitstudie an Kindern stellt sie wiederum in Frage. Zudem hat sich gezeigt, dass die Netzhaut die Ebene der höchsten Sehschärfe selbst ermittelt und das Längenwachstum des Augapfels selbst reguliert. "Leider", konstatiert Schaeffel, "gibt es derzeit keine gute Hypothese, wie und warum Lesen und Kurzsichtigkeit zusammenhängen."

Speziallinsen mit Zukunft

Kann man verhindern, dass Kurzsichtigkeit entsteht, oder zumindest erreichen, dass sie sich nicht weiter verschlimmert? Im Prinzip ja. Die Brillen und Kontaktlinsen, die gegenwärtig verwendet werden, sind allerdings nicht optimal. Sie machen nämlich oft genug das kurzsichtige Auge an seiner Peripherie weitsichtig. Neuerdings gibt es jedoch spezielle Linsen, die so geschliffen sind, dass sie auch in der peripheren Netzhaut Kurzsichtigkeit erzeugen. Sie dürften eine große Zukunft haben: "Eine US-Untersuchung zeigte, dass solche Lesebrillen die Myopieentwicklung um bis zu 60 Prozent verlangsamen können", sagt Schaeffel.

In China und Taiwan wird jedes dritte kurzsichtige Kind mit dem Wirkstoff Atropin behandelt. Er hemmt zwar tatsächlich das Längenwachstum des Augapfels, erweitert allerdings die Pupille dermaßen, dass das Auge leicht geblendet wird. Zudem muss Atropin laufend verabreicht werden. Wird es abgesetzt, fängt das Auge wieder an zu wachsen. Sollte es aber gelingen, die Nebenwirkungen in den Griff zu bekommen, wird man Kurzsichtigkeit künftig kurieren können - mit Augentropfen.