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Den Jahreswechsel feiern allen Kulturen rituell. Auch moderne Gesellschaften pflegen ihn archaisch, mythisch. In den kommerziellsten Silvester- und Neujahrsumtrieben stecken uralte Vorstellungen. Als ob es ernst zu nehmen wäre. Als ob man sich selber traute und vertraute. Als ob Zeit eine Göttin wäre, eine unheimliche Kraft, und der Kalender magisch vorschriebe.
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Je schwieriger eine Situation, desto eher sind die meisten Menschen geneigt, von Schicksal, Vorbestimmung oder fremden, höheren (göttlichen) Kräften zu reden, die verantwortlich gemacht werden können. Sie brauchen die Entlastung, die Erklärung. Unsinn ist nicht offen erträglich, also tauft man ihn als etwas Sinnvolles. Extrem Abweichendes ist auf Dauer unannehmbar, also blickt man es anders an, durch eine Brille.
Trotz des Regimes wissenschaftlichen Denkens sind die meisten noch in irrationalen, religiösen, dogmatischen Denkmustern daheim, die ihnen jene Sicherheiten bieten, die sie in den Realitäten nicht finden. Sicherheit über alles, auch über Freiheit. Freiheit ist offen, gefährlich, Mühsal. Eine Strafe Gottes nach der Vertreibung aus dem Paradies. Sicherheit ist Geborgensein. Wer will das nicht? Und für alle Unfälle gibt es Gebete oder Flüche, Götter und Teufel, Schicksal.
Allzu oft ist die Rede von sinnlosen Morden oder Kriegen, von sinnlosen Opfern. Als ob es sinnvolle gäbe! Tief sitzt in solchen Überzeugungen ein Irrglaube, ein Inhumanes. Das ehrenhafte Opfertum muss einen höheren Wert haben, der es rechtfertigt: Daher werden Kriege geheiligt, Opfer als Mittel zum Fortschritt gesehen. Als Schicksal.
Trotzdem rafft an sich zu "eigenen" Entscheidungen auf. Man formuliert Vorsätze, Ziele - und hat die Antwort parat, wenn man sie nicht erreicht. Ungeheure Anstrengungen werden unternommen, um den Freiraum menschlicher Selbstbestimmung zu desavouieren. Man folgt einem Masterplan. Trotzdem will man sich gewisser Handlungen erwehren. Pocht auf Eigenleistung und freien Willen, auf Rechte und Pflichten. Im Gleichheitsprogramm gibt es Unterschiede. Nur Macht und Vermögen sind wirksam. Zur moralischen Deckung wird ihre Sicht eingebettet in ein übergeordnetes Schicksal.
Viele wanken zwischen verzweifelter Unterwerfung unter die Vorbestimmung, fanatischer Erfüllung ihres vermeintlichen Auftrags und Versuchen, Felder von Verantwortlichkeit abzustecken, sie einzufordern, vor allem von anderen. In unseren Krisenzeiten haben Religionen wieder Hochkonjunktur. Nicht alle fördern Toleranz und Respekt.
Wir loben unsere Zukunftsprogramme, feiern gute Vorsätze, geben der Geschichte und der Gegenwart, die schon morgen Geschichte ist, Sinn. Die Geschichte ist nicht aktiv, genauso wenig wie die Zeit. Die Zeit macht nichts. Und Geschichte ist kein Agent, keine eigene Kraft. Der Humbug dieser Fehlsicht ist ein Entlastungskonstrukt, damit alles weitergehe, als ob sich ein nihilistisches Programm in göttlichem Auftrag erfülle, das man, nach modernen Standards, "vernünftig" garniert. Lebenslügen.
Haimo L. Handl ist Politik- und Kommunikationswissenschafter.