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Impfverweigerung - die Folge von Ignoranz und Individualismus

Von Paul Reinbacher

Gastkommentare
Paul Reinbacher arbeitet an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich auf einer Professur im Fachbereich Bildungswissenschaften. Sein Buch "Fehlvereinfachungen" ist im ersten Jahr der Pandemie entstanden und im heurigen Frühjahr bei Passagen erschienen.
© privat

Es ist vielleicht weniger ein Phänomen des persönlichen Protests als vielmehr ein Ergebnis verschiedener gesellschaftlicher Entwicklungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte.


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In zahlreichen öffentlichen wie privaten Diskussionen zur Pandemie zeigt sich die Tendenz, einzelnen Personen beziehungsweise Personengruppen die direkte, persönliche Verantwortung für gesellschaftliche Probleme zuzuschreiben: Schuldige oder gar Sündenböcke werden gesucht (und gefunden), individuelle Motive oder Defizite zur Erklärung des Handelns herangezogen. Um dieser Versuchung vorschneller Vereinfachungen nicht nachzugeben, wird hier versucht, das aktuelle Problem einer hierzulande verbreiteten Verweigerung der (in anderen Ländern begehrten oder heiß ersehnten) Covid-19-Impfung als Ausdruck struktureller, sich schon seit längerer Zeit abzeichnender Trends zu interpretieren. Da dies hier nur ausschnitthaft geschehen kann, müssen sich die folgenden Überlegungen zwar in gewisser Weise selbst den Vorwurf der "Fehlvereinfachungen" gefallen lassen - doch immerhin ist sich der Autor dieser Zeilen darüber im Klaren.

Beginnen wir also - notwendigerweise stark zugespitzt - mit jenem "neoliberalen" Zeitgeist, der unsere Gesellschaft nun schon über einige Jahrzehnte hinweg fest im Griff hat: Er implementiert nicht nur in der ökonomischen, sondern auch in der politischen Dimension die kapitalistischen Grundtendenzen moderner, westlicher Gesellschaften und führt auf diesem Weg zu einer Aushöhlung demokratischer Systeme, was Colin Crouch auf den Buchtitel der "Post Democracy" gebracht hat.

Hinzu kommt in der sozialen Dimension ein gewissermaßen "postmoderner" Trend zum Relativismus, der sich unter anderem in einer Verbreitung von trivialisierten Formen des "radikalen Konstruktivismus" äußert: Man verwechselt die Unmöglichkeit eines direkten Zugangs für Beobachter zur Kant’schen Welt der Dinge "an sich" mit subjektiver Beliebigkeit und bahnt auf Basis dieses Kurzschlusses einer naiven Neutralität den Weg, die sich von intersubjektiver Wahrheitsfindung durch Argumentation oder gar von objektiven Fakten und empirischer Evidenz verabschiedet, wie beispielsweise Philipp Kohlhöfer in seinem jüngst erschienenen Buch "Pandemien" gezeigt hat.

Außerdem sehen wir in der kulturellen Dimension, dass die zunächst in Deutschland von Georg Picht diagnostizierte "Bildungskatastrophe" samt der in Österreich über "Unbildung" und "Halbbildung" (Zitat Konrad Paul Liessmann) geführten Debatte auf Dauer gestellt scheint - man denke nur an euphorische Befürworter und erbitterte Gegner von Bildungsreformen rund um die Neue Mittelschule oder die (mit ihrer Ausrichtung an kurzfristiger Kompetenzorientierung der Aufklärung und dem klassischen Humanismus zugunsten von Arbeitsmarktfähigkeit eine Absage erteilende) Zentralmatura.

Aushöhlung des Solidaritätsprinzips

Bei näherem Hinsehen lässt sich dann in weiterer Folge feststellen, dass erstens die Aushöhlung des Solidaritätsprinzips in einer "Gesellschaft auf dem Ego-Trip" (Zitat Heike Leitschuh) nicht unwesentlich auf der wechselseitigen Verstärkung von postdemokratischem Neoliberalismus einerseits und postmodernem Relativismus andererseits gründet, dass zweitens die um sich greifende Wissenschaftsskepsis samt der damit einhergehenden Anfälligkeit unserer Gesellschaft für "Fake News" ihre Grundlage in einer Kombination aus dem Trend zum trivialen Relativieren und dem naiven Verzicht auf aufklärerisches Denken mit Idealen wie Vernunftgebrauch und Urteilskraft hat, sowie dass nicht zuletzt drittens die vielbeschworene Politikverdrossenheit samt der Suche nach neuen Leitfiguren und dem zu beobachtenden Esoterik-Boom ein Ergebnis der unheilvollen Allianz aus gegenaufklärerischen Tendenzen im Bildungssystem einerseits und den kapitalistischen Mechanismen von Neoliberalismus und Postdemokratie andererseits darstellt.

Zusammengenommen deuten diese Überlegungen darauf hin, dass die derzeit zu beobachtende (und für viele überraschende) Ablehnung der Covid-Impfung durch einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung eigentlich wenig überraschend, sondern vielmehr das sichtbare Ergebnis verschiedener, nicht immer sichtbarer beziehungsweise auf den ersten Blick nicht miteinander in Verbindung stehender ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Entwicklungen sowie ihrer Kombination ist (Geschäft mit Esoterik, Ego-Trip statt Solidarität gepaart mit Wissenschaftsskepsis und Bildungsdefiziten).

Letztlich führt all dies zur begründeten Vermutung, dass die Impfverweigerung über weite Strecken weniger ein Phänomen des persönlichen Protests einzelner Personen(gruppen) mit ihren vermutlich wenig homogenen Motivlagen ist (obwohl es sich auf den ersten, durch die Bilder in den Medien geprägten Blick so darstellen mag). Demgegenüber haben wir es eher mit einem Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklungen der "longue durée" zu tun. Während aktuelle politische Strategien aus naheliegenden und nachvollziehbaren Gründen das kurzfristige Ziel verfolgen, die Impfquote zu erhöhen, indem sie der Verweigerungshaltung mit dem Aufbau von Druck begegnen, wäre es darüber hinaus an der Zeit, in der öffentlichen Diskussion den langfristigen Ursachen dieses (nur die Spitze des sprichwörtlichen Eisbergs darstellenden) Problems die entsprechende Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen.