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In Ägypten knallen die Korken, doch die Party ist vorbei

Von Michael Schmölzer

Politik

Überall sind die Islamisten auf dem Vormarsch, es sieht nicht gut aus für die erst erfolgsverwöhnte Demokratiebewegung.


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Viele Ägypter begießen auch heuer das Neue Jahr mit Bier, Schnaps und Wein, manche tun das wohl in einem Ausmaß, als ginge es um ihren allerletzten Rausch. Sie könnten recht haben, denn militante Abstinenzler sind auf dem Vormarsch im Land am Nil. Die Salafisten, bärtige Männer mit moralischen und politischen Vorstellungen aus dem Mittelalter, feiern Wahlerfolge, wie sie zuvor nicht für möglich gehalten worden waren. Jeder vierte Ägypter hat in den bisherigen Wahlrunden den radikalen Islamisten seine Stimme gegeben, gemeinsam mit den Muslimbrüdern hätten die Eiferer eine satte Mehrheit im Parlament.

Ägypten ist bei weitem das bevölkerungsreichste Land in der arabischen Welt, was hier geschieht, hat Vorbildwirkung, gibt in gewisser Weise die Richtung vor. Die Euphorie der Jänner-Tage 2011 ist längst verflogen, vorbei die Zeit, als jugendliche Facebook-Aktivisten Sit-ins auf dem Tahrir-Platz in Kairo abhielten und über Freiheit und Demokratie nach dem Sturz der verhassten Diktatur philosophierten. Dass Hosni Mubarak im Gefängnis sitzt, hat Ägypten zu einem großen Teil den jugendlichen Unzufriedenen zu verdanken, die sich blitzschnell organisierten, zentrale Orte in Besitz nahmen und sich nicht mehr vertreiben ließen. Doch jetzt geht es darum, wie die Macht im Staate aufgeteilt wird. Noch pocht die Armee auf ihren Führungsanspruch und lässt Kritiker niederknüppeln, doch die Zeit der allmächtigen Herren in Generalsuniform läuft ab. Die Muslimbrüder nutzen die Gunst der Stunde, im Vergleich zu den liberalen Kräften sind sie gut organisiert und kampferfahren.

Die Salafisten verfügen über Geldmittel, von denen die Demokratie-Aktivisten nur träumen können. Keine Frage, wer das Machtvakuum, das die Mubarak-Staatspartei hinterlässt, zunächst füllen wird: Es sind die Religiösen. Sie sind es, die großzügig von Saudi-Arabien gesponsert werden, entsprechend haben die Islamisten etwas zu verteilen. Das ist nicht unwesentlich in einem Land, in dem ein Teil der Bevölkerung mit einem Euro pro Tag auskommen muss. Die weltlichen, gebildeten und modern denkenden Regimegegner konnten keine soliden Institutionen bilden und Wurzeln schlagen, das funktioniert mit dem Gebrauch neuer sozialer Medien alleine nicht. Der Islam hingegen ist in den arabischen Gesellschaften tief verankert. Er wurde in den letzten Jahrzehnten von den Herrschenden lediglich ins Abseits gestellt, jetzt meldet er sich umso deutlicher zurück.

Den Liberalen dämmert, dass die Party vorbei ist. Kopfschmerz stellt sich ein, das Gespenst Iran taucht plötzlich auf. 1979 wurde dort der westlich orientierte Schah gestürzt und die Mullahs errichteten einen autoritären Gottesstaat. Sittenwächter achten bis heute streng darauf, dass kein Wein getrunken wird, dass keine Haarsträhne unter dem Schleier hervorlugt und dass sich Mann und Frau nur dann gemeinsam auf der Straße zeigen, wenn sie verheiratet oder verwandt sind. Stoßtrupps bewaffneter Gardisten veranstalten Razzien und dringen in Privatwohnungen ein, wenn sie dort illegale Partys vermuten. Wer erwischt wird, dem drohen Prügel oder Gefängnis. Die ägyptischen Salafisten halten das für richtig, sie wollen sogar Touristen zum Tragen von Kopftüchern zwingen und in den Badeorten Bikinis und Alkohol verbieten. Außerdem soll es getrennte Strände geben. Ob das Land so für westliche Touristen attraktiv bleibt, ist höchst fraglich. Möglicherweise wollen die Salafisten ausschließlich Kunden aus den religiösen Golf-Staaten für Urlaube am Nil begeistern.

Im Land der Pharaonen sind die Islamisten erst auf dem Weg zur Macht, in Tunesien haben die frommen Männer bereits alle wichtigen Ministerien unter ihre Kontrolle gebracht. Hier gibt sich die Ennahda-Partei demokratisch und moderat und war bis zuletzt zu Kompromissen bereit, doch der Schein könnte trügen. Bei der französischen Jugend-Staatssekretärin Jeannette Bougrab - sie stammt aus Algerien - läuten jedenfalls die Alarmglocken. Einen moderaten Islamismus, eine "Scharia light", gibt es für sie nicht. Ein auf der Scharia basierendes Rechtssystem bedeute unvermeidlich die Einschränkung von Freiheiten, insbesondere der Gewissensfreiheit. Scharia und Demokratie seien nicht vereinbar, sagt die französische Politikerin.

Politologen aus dem arabischen Raum sehen das genauso. Frontmann der Schwarzseher ist Bassam Tibi, Experte in Sachen Islamismus. Er sieht einen "Arabischen Winter" hereinbrechen, der "sehr frostig" wird. Bei einem Vortrag zuletzt in Wien bezweifelte er, dass es im arabischen Raum tatsächlich zur Herausbildung von Demokratien kommen könne. Es fehlten die nötigen Voraussetzungen, so der Politologe. Ägypten, Libyen und Syrien seien stets von starken Führern dominiert worden, Demokratie könne so nicht wachsen, es fehle an der entsprechenden politischen Kultur. Das Element der Gewaltenteilung sei weitgehend unbekannt, auch habe man den Umgang mit Andersdenkenden nie so richtig gelernt. Im arabischen Raum gebe man sich zudem der Illusion hin, dass sich Demokratie auf die Abhaltung freier Wahlen beschränke, kritisiert Tibi.

Aus all diesen Gründen hält Tibi die Machtübernahme der Islamisten für unausweichlich, Freiheit unter den Muslimbrüdern sei "nicht vorstellbar". Libyen sei ein Land, das von "bewaffneten Gangs" dominiert werde, an Demokratie sei auch hier nicht zu denken, zumal Libyen auf besonders totalitäre politische Traditionen zurückblicke. Außerdem sind viele, vor allem ältere Menschen in der arabischen Welt der Unruhe und Unsicherheit überdrüssig, sie rufen nach einer Ordnungsmacht, sei es nun die Armee oder seien es die Islamisten. Tibi ist davon überzeugt, dass die Spannungen zwischen den arabischen Ländern und Israel im nächsten Jahr massiv zunehmen werden.

Optimisten geben die Sache aber nicht verloren, versuchen vielmehr den Schwung der Arabischen Revolution ins Neue Jahr mitzunehmen. Sie machen denen Mut, die noch an ein Happy End glauben. Diese Kenner der Region - unter ihnen ORF-Korrespondent Karim El-Gawhary - verweisen darauf, dass mit den Umstürzen die Zeit der politischen Monopole im arabischen Raum nunmehr vorbei sei.

Der begonnene Prozess der Demokratisierung, sagen die Optimisten, sei unumkehrbar. Zwar werde die Zukunft in den arabischen Ländern turbulent, sei das Chaos durchaus vorprogrammiert, und doch habe diesmal das Volk den Steuerknüppel in der Hand. Der gemeine Mann, die gemeine Frau von der Straße würden den Karren lenken. Diese Prognosen gehen davon aus, dass sich die Menschen in Tunesien, Ägypten und Libyen, später vielleicht auch in Syrien, nie wieder von einer einzelnen Persönlichkeit oder einer einzelnen politischen Macht dominieren lassen. Jetzt würden in einem spannenden und unvorhersehbaren Prozess die Bedingungen ausverhandelt, unter denen die nachrevolutionären Staaten ihre Zukunft gestalten. Auf allen Ebenen, auch in vielen Betrieben, sei ein demokratischer Prozess in Gang gekommen, die autoritären Strukturen würden aufgebrochen. Die Araber hätten durch die Befreiung von den Tyrannen erstmals Würde erlangt, eine Erfahrung, die man nicht so schnell der Herrschaft machthungriger Generäle oder totalitärer Religionsgelehrter opfern werde, heißt es.

Viel sei möglich, doch die Revolutionäre der ersten Stunde würden es nicht zulassen, dass Islamisten ihre Revolution kidnappen, so die Hoffnungsfrohen.