)
Umfragewerte für AKP im Sinkflug. | Ruf nach Krisen- paket für Wirtschaft. | Istanbul. (dpa) Nach einem Jahr schwerer politischer Kämpfe ist beim türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan der Lack ab. Zwar konnte der Politiker das drohende Verbot seiner islamisch-konservativen AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) in einem erbittert ausgetragenen Streit um das Tragen von Kopftüchern knapp abwenden. Doch das von dem 54-jährigen Premier versprochene Reformprogramm, das die Türkei auf den gewünschten Beitritt zur EU vorbereiten soll, tritt auf der Stelle. Die Umfragewerte sind im Sinkflug. Auch Gefolgsleute werden skeptisch. Erdogan sei "wie Obama gekommen, gleiche aber immer mehr Bush", sagte der Kommentator Fehmi Koru. In einer vielbeachteten TV-Runde griff er den Regierungschef frontal an. Erdogan habe den Türken einen Wechsel versprochen: die Beilegung des Kurden-Konflikts, eine weitere Stärkung der Menschenrechte und die Verbesserung der Demokratie. Doch Erdogans AKP sei vom Kurs abgekommen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 16 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Der Premier war erbost. Galt der Journalist, der für die regierungsnahe Tageszeitung "Yeni Safak" schreibt, doch als sein guter Bekannter.
Vom einstigen Elanwenig zu spüren
Auch viele Türken glauben bemerkt zu haben, dass sich der Regierungschef in den vergangenen Monaten verändert hat. Kritiker sagen, er sei weniger pragmatisch und reformorientiert und habe sich zunehmend mit den Verhältnissen arrangiert. In einer Umfrage erklärten immerhin 46 Prozent der Befragten, sie wollten den "alten Erdogan" zurück. Nur noch 33 Prozent der Wähler würden noch für die AKP stimmen. Bei der Parlamentswahl im vergangenen Sommer hatte Erdogans AKP triumphal 47 Prozent der Stimmen bekommen. Der Ministerpräsident verfügt seitdem über eine absolute Mehrheit im Parlament.
Trotz eines starken politischen Mandates habe Erdogans Regierung "kein zusammenhängendes Programm von politischen und verfassungsmäßigen Reformen vorgelegt", wird auch im Fortschrittsbericht der EU festgestellt. Die Streitkräfte übten nach wie vor "erheblichen politischen Einfluss" in der Türkei aus. Die Rechte von Minderheiten seien nach wie vor in der Praxis nicht geschützt. Auch in der Reform der öffentlichen Verwaltung habe es nur "begrenzten Fortschritt" gegeben. Für Unterstützer der Türkei war die Lektüre deprimierend.
Und dann die Wirtschaft. Erdogans politischer Erfolg ist eng mit dem Aufstieg der "anatolischen Tiger" verbunden. Sie stehen für eine religiös konservative und wirtschaftlich erfolgreiche neue Elite, die den säkularen Kemalisten die Führung streitig gemacht habe. Nun ist das Land voll in den Strudel der weltweiten Finanzkrise geraten. Die Exporte sind im November im Vergleich zum Vorjahresmonat um mehr als 22 Prozent eingebrochen. Fabriken schließen, Arbeiter verlieren ihre Jobs. Ein politischer Test für die Zustimmung zu Erdogans Politik sind die Kommunalwahlen am 29. März.
Beschwichtigung statt Krisenmanagement
Während sich das Land noch auf harte Zeiten einstellt, will Erdogan schon Licht am Ende des Tunnels ausgemacht haben. Das Schlimmste sei überstanden, sagte er und sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, er bereite das Land nicht auf die kommenden Probleme vor. Der Unternehmerverband fordert, nach dem Vorbild anderer Industriestaaten ein Krisenprogramm aufzulegen. Kommentatoren meinen, Erdogan unterschätze das Ausmaß der Wirtschaftskrise.
Auf Kritik reagiert er inzwischen aber dünnhäutig. Sechs türkische Journalisten, die die Führung mit ihren Berichten verärgert haben, erhielten von der Regierung keine neue Akkreditierung.