Zum Hauptinhalt springen

In Berlin droht der SPD neuerlich ein Wahldebakel

Von Franz Nickel, Berlin

Politik

Zwölf Tage vor den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den 23 Bezirksparlamenten am 10. Oktober bietet sich dem Spaziergänger in Berlin das seit den "heißen Phasen" vergangener Wahlkämpfe | gewohnte Bild. Kein Laternenmast, kein Baum in den Hauptstraßen ohne die Konterfeis der Kandidaten und Losungen aus den diversen Parteiprogrammen. Hunderte Wahlveranstaltungen verschiedenster Art | gehen täglich über die Bühne.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 25 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Ungewohnt allerdings, dass erstmals seit über 50 Jahren der Wahlkampf zum Berliner Abgeordnetenhaus sich am Sitz der deutschen Bundesregierung abspielt. Und diese weiß diesen Vorteil zum richtigen

Zeitpunkt ins Feld zu führen.

Erst vor wenigen Tagen hatte Bundeskanzler Schröder (SPD) nach dem Regierungsumzug von Bonn nach Berlin verkündet: "Wir sind angekommen. Das muss gefeiert werden", und die Berliner zu einem großen

Kanzlerfest vor dem Brandenburger Tor und Unter den Linden eingeladen.

Das Kanzlerbüro und der Kabinettssaal im ehemaligen Amtssitz des Staatsrates der DDR und der Kanzlergarten waren geöffnet. In den eben umgezogenen Ministerien gab es einen "Tag der offenen Tür", und

mit Bussen oder Schiffen fanden Rundfahrten durch das künftige Regierungsviertel statt. 500.000 kamen zu diesem Spaziergang, 40.000 nutzten die Führungen durch die Bundesministerien, 15.700 besuchten

das Kanzleramt. Nur einem wurde der Zutritt verweigert, Erich Honecker-Double Horst Rißmann, der Schröders Büro für einen kommerziellen Werbegag nutzen wollte.

Ob sich diese Besucherzahlen in Stimmen für die Sozialdemokraten und Bündnisgrüne ummünzen lassen, ist mehr als zweifelhaft. Nach den katastrophalen Stimmenverlusten der SPD in den neuen

Bundesländern Brandenburg, Thüringen und Sachsen glaubt hier niemand mehr ernsthaft, dass sich dieser Abwärtstrend in den wenigen Tagen bis zur Wahl ändern lässt.

CDU nähert sich der 40-Prozent-Marke

Ganz im Gegenteil, die CDU bewegt sich nach neuesten Umfragen bereits auf die 40 Prozent zu, und ihr Vorsprung wächst weiter. Die SPD liegt nur noch bei 19 Prozent. Der PDS werden 17 Prozent

vorausgesagt, sie könnte aber die SPD durchaus überrunden, weil sie anstelle der SPD immer stärker als Partei der sozialen Gerechtigkeit angenommen wird. Die Bündnisgrünen verlieren weiter und liegen

unter zwölf Prozent. Ein Regierungswechsel von Schwarz-Rot zu Rot-grün ist also nicht in Sicht. Bei der Wahl zum Abgeordentenhaus im Oktober 1995 erhielt die CDU 37,4 Prozent. Die SPD kam auf 23,5

Prozent, gefolgt von PDS mit 14,6 Prozent und Bündnis90/Grüne mit 13,2 Prozent.

Nichtsdestotrotz versprüht SPD-Spitzenkandidat Walter Momper Optimismus. Er will jetzt vor allem die traditionellen SPD-Wähler mobilisieren. Die Werbekampagnen, Telefon- und Flugblattaktionen sollen

verstärkt werden. Neue Plakate zur sozialen Gerechtigkeit werden bereits geklebt.

Auch Bundeskanzler Schröder will seine "Politik der Innovation und Gerechtigkeit" stärker vermitteln, kündigt der designierte SPD-Generalsekretär Franz Müntefering an. Und das ist nötig, denn die

bisherigen Wahldesaster werden vorwiegend auf die Regierungspolitik zurückgeführt.

Neben den positiven Aspekten wie die Kindergelderhöhung, das 100.000-Stellen-Programm für Jugendliche, das Programm "Soziale Stadt" sowie den Kürzungen im Rüstungsbereich steht der Bruch zahlreicher

Wahlversprechen, das "Sparpaket" mit Belastungen vieler Rentner, Arbeitsloser und Sozialhilfeempfänger und des Ostens, die Kürzung des Sozialetats um 12,5 Milliarden Mark, die Aufbürdung von drei

Milliarden Mark an die Länder und Gemeinden, die Halbierung der Sparerfreibeträge um 50 Prozent, die Erhöhung der Mineralölsteuer um sechs Pfennige pro Liter, der Verzicht auf die Erhebung einer

Vermögenssteuer für Konzerne und Spitzenverdiener, um nur einiges zu nennen.

Hinzu kommen eine Reihe spezifischer Faktoren, die von Verschwendung deutscher DM in Millionenhöhe beim Berlin-Umzug über die Errichtung eines Luxuskindergartens für Kinder von Bundestagsabgeordneten

für zehn Millionen DM, dem eine Million teuren Rollrasen vor dem Kanzleramt bis zum teuren Asbest-Abriss des Palastes der Republik reichen. All das wird mit ins Gewicht fallen, wenn die fast 2,5

Millionen Wahlberechtigten am Sonntag kommender Woche an die Urne gerufen werden.