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In Darwins Schatten

Von Franz M. Wuketits

Reflexionen
Alfred Russel Wallace auf einem Porträtfoto von 1896.
© Wikipedia

Vor 100 Jahren starb Alfred Russel Wallace. Der akribische Naturforscher entdeckte unabhängig von Charles Darwin die natürliche Auslese als Mechanismus der Evolution und erwarb sich als Forschungsreisender große Verdienste.


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Im Juni 1858 erhielt Darwin Post aus dem Fernen Osten, aus Ternate, einer indonesischen Insel im Molukken-Archipel. Absender war der junge Naturforscher und Sammelreisende Alfred Russel Wallace. Darwin war ihm nie persönlich begegnet, kannte aber seinen Namen und stand mit ihm im gedanklichen Austausch. Nun schickte ihm Wallace ein Manuskript: "Über die Neigung der Varietäten, sich unbeschränkt von ihrem ursprünglichen Typus zu entfernen". Die Arbeit war unter schwierigsten, für ihren Autor nicht eben untypischen Umständen entstanden, in einer einsamen, mit Palmblättern bedeckten Hütte, wo ihn Malaria-Attacken regelmäßig niederwarfen.

Wallace wollte wissen, ob seine Ideen etwas wert, und ob sie wissenschaftlich haltbar waren. Nach der Lektüre des Manuskripts war Darwin wie gelähmt: Es war praktisch die Kurzfassung seiner eigenen Theorie, an der er bereits zwei Jahrzehnte arbeitete. Zwar verwendete Wallace nicht den Begriff "natürliche Auslese", aber sonst waren seine Gedankengänge denen Darwins verblüffend ähnlich.

Zu Unrecht vergessen

Wallace ist heute wenig bekannt, beinahe in Vergessenheit geraten. Allerdings hat Matthias Glaubrecht vom Museum für Naturkunde in Berlin dem verdienstvollen Naturforscher in den vergangenen Jahren verschiedene Arbeiten und jüngst ein umfangreiches Buch gewidmet. Glaubrecht erinnert unter anderem daran, dass Wallace nicht weniger als zweiundzwanzig Bücher und rund siebenhundert wissenschaftliche Veröffentlichungen verfasst hat und als Begründer der Tiergeographie, der Wissenschaft von der Verbreitung der Tierwelt, anzusehen ist.

Alfred Russel Wallace kam am 8. Januar 1823 in der walisischen Stadt Usk als achtes von neun Kindern des Anwalts Thomas V. Wallace und dessen Frau Mary Anne zur Welt. Die Familie lebte in bescheidenen Verhältnissen, und Alfred musste früh für sich selbst sorgen. Er arbeitete zunächst als Landvermesser, wobei er seine Leidenschaft für Reisen und für Pflanzen entdeckte. In der städtischen Bibliothek von Leicester begegnete er Henry Walter Bates (1825-1892), einem ebenso naturkundlich interessierten Autodidakten. Die beiden brachen 1848 zu einer Expedition nach Südamerika auf. Was die jungen Hobbyforscher antrieb, war neben Abenteuerlust vor allem auch die Aussicht, gesammelte Naturobjekte verkaufen zu können. Exotische Pflanzen, Tiere und Steine waren damals bei Museen und wohlhabenden Privatsammlern sehr gefragt.

In Amazonien gingen Wallace und Bates allerdings getrennte Wege. 1852 trat Wallace mit Hunderten präparierten, bis dahin unbekannten Tierarten die Rückreise nach England an, die allerdings in einer Katastrophe ausartete. Das Schiff, der Zweimaster "Helen", fiel einem Brand zum Opfer und sank im Nordatlantik. Das wertvolle Material ging verloren, lediglich einige Zeichnungen konnte Wallace auf ein vollbesetztes Rettungsboot bringen, mit dem er am 1. Oktober 1852 wieder in England ankam. Glück im Unglück: Wallace‘s Agent Samuel Stevens hatte die Schiffsladung versichern lassen, sodass dem Sammler zumindest ein finanzielles Desaster erspart blieb.

1853 veröffentlichte Wallace, inzwischen dreißig Jahre alt, zwei Bücher, eins über die Palmen der Amazonasregion und einen Reisebericht, der seine Erfahrungen in dieser Region zusammenfasste. Die Bücher wurden allerdings kaum beachtet. Also, eine weitere Enttäuschung, die dem Forscher jedoch nicht den Wind aus den Segeln nehmen konnte. Dies sogar in wörtlichem Sinn, denn bereits 1854 brach er wieder zu einer Expeditionsreise auf. Diesmal allein und in den Fernen Osten, zum Malaiischen Archipel, der zwischen Südostasien und Neuguinea gelegenen fünfzehn Millionen Quadratkilometer umfassenden, vielgestaltigen Inselwelt.

Acht Jahre unterwegs

Acht Jahre verbrachte Wallace dort. Auf der Jagd nach seltenen Tieren durchstreifte er entlegenste Inseln und legte dabei vierzehntausend Meilen zurück. Sein Basislager, meist nur eine einfache Hütte, wechselte er nicht weniger als sechzigmal. Das Unternehmen war als waghalsig zu bezeichnen, zumal Wallace seinen Körper überstrapazierte und von Malariaschüben geplagt wurde. Als Forschungs- und Sammelreise aber war es überaus erfolgreich.

Wallace, der Autodidakt, war fasziniert von der Artenvielfalt im Malaiischen Archipel. Vor allem Insekten und Vögel hatten es ihm angetan. Zwar war seine -von der Royal Geographical Society finanziell unterstützte - Reise offiziell eine Sammelreise, doch den Naturforscher interessierten auch Zusammenhänge. Er untergliederte die Tierwelt nach den Gesichtspunkten ihrer geographischen Verbreitung in sechs große Regionen, die noch heute im Wesentlichen gültig sind. Sein 1876 erschienenes Werk über die geographische Verbreitung der Tierwelt weist ihn als Begründer der Tiergeographie aus. Sein Blick für Zusammenhänge erfüllte ihn aber auch schon mit der - aus heutiger Sicht völlig berechtigten - Sorge, dass die Vielfalt der Tierwelt selbst in abgeschiedenen Urwaldregionen durch das Treiben des Menschen bedroht sein könnte.

Doch schon allein der Sammler Wallace muss uns Respekt einflößen. In den acht Jahren seiner Streifzüge durch den Maliischen Archipel trug er nicht weniger als 125.660 Einzelobjekte zusammen, darunter 83.200 Käfer, 13.100 Schmetterlinge und 8050 Vögel. Seine Erlebnisse trug er später in seinem Buch "The Malay Archipelago" zusammen, welches - anders als sein "Amazonas-Buch" - auf breites Interesse stieß und überhaupt sein erfolgreichstes Werk wurde. Aus dem Malaiischen Archipel schickte Wallace regelmäßig seine gesammelten Naturobjekte nach London, legte seinen Sendungen aber immer wieder auch theoretische Abhandlungen bei.

Nach seiner Heimkehr am 1. April 1862 war Wallace in Fachkreisen kein Unbekannter mehr. Er hatte zahlreiche neue Tierarten entdeckt und beschrieben. "Bis heute liefern seine Funde Rohstoff für neue wissenschaftliche Abhandlungen. Die Wallace-Expedition gilt als erfolgreichste Ein-Mann-Unternehmung der Naturkunde" (Glaubrecht). Eine Verankerung im akademischen Betrieb gelang ihm allerdings nicht. Charles Darwin setzte sich persönlich dafür ein, dass sein jüngerer "Kollege" ab 1881 als Anerkennung für seine wissenschaftlichen Verdienste eine staatliche Zuwendung von zweihundert Pfund pro Jahr erhielt. Darwin war es auch, der seine publizistischen Aktivitäten immer wieder unterstützte und für wissenschaftliche Ehrungen Sorge trug.

Wallace heiratete 1866 die wesentlich jüngere Annie Mitten, mit der er drei Kinder hatte, die ihn aber nur um ein Jahr überlebte. Er selbst starb am 7. November 1913 im Alter von neunzig Jahren. Am 10. November wurde er auf einem kleinen Friedhof bei Bournemouth in Dorset beigesetzt. Sein Grab kennzeichnet ein fossiler Baumstamm.

Immer wieder wird Wallace neben Darwin als Mitbegründer der Theorie der natürlichen Auslese erwähnt - aber eben nur als Mitbegründer beziehungsweise "ewiger Zweiter". Dass er zu den wenigen Naturforschern des 19. Jahrhunderts gehört, die an eine Veränderung, eine Evolution der Organismen-Arten dachten, steht außer Frage. Bereits 1855 notierte er. "Jede Art entstand in räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit einer bereits existierenden und nahe verwandten Art." Das Manuskript, das er 1858 an Darwin schickte, enthielt aber schon wesentlich mehr: eine Theorie des evolutionären Wandels, die im Wesentlichen der Selektionstheorie Darwins entsprach. Unter Wissenschaftshistorikern wurde wiederholt die Frage diskutiert, welchen Anteil Wallace an der Selektionstheorie - und damit an der modernen Evolutionstheorie überhaupt - hatte, ja, ob ihm nicht sogar Priorität gegenüber Darwin zukommt. Hieraus ließe sich ohne weiteres ein Wissenschaftskrimi entwickeln.

Prioritätsstreit

An der Originalität der Gedanken von Wallace ist nicht zu zweifeln, weil er von Darwins evolutionstheoretischen Überlegungen nichts wissen konnte. Dieser wiederum musste befürchten, dass seine Mühen umsonst waren, weil ein jüngerer Forscher dieselben Ideen bereits zu Papier gebracht - wenn auch noch nicht veröffentlicht - hatte. Aber Darwin war an einem Prioritätsstreit ebenso wenig interessiert wie Wallace.

Darwins Freunde wiederum - nicht zuletzt der einflussreiche Geologe Charles Lyell (1797-1875) - waren um Darwins Priorität besorgt. Also arrangierte man sich. Am 1. Juli 1858 wurde die Abhandlung von Wallace zusammen mit einem Auszug aus Darwins vorliegendem Text in einer Sitzung der angesehenen Linnean Society in London vorgetragen. Bloß dreißig Personen wohnten der Sitzung bei und niemand schien bemerkt zu haben, welch brisante Thesen beide Arbeiten enthielten. Niemand stellte eine Frage, die Sitzung endete unspektakulär. Im Jahresrückblick der Linnean Society wurde vermerkt, dass das Jahr 1858 ohne herausragende wissenschaftliche Entdeckungen verstrichen sei.

War man blind? Oder wollte man (noch) kein Aufsehen erregen? Darwin jedenfalls sah sich angespornt, seine Arbeit nunmehr zu beenden und veröffentlichte am 24. November 1859 sein berühmtes Buch "Über die Entstehung der Arten", das die biologische Gedankenwelt erschüttern und weit über die Biologie hinaus Bedeutung erlangen sollte.

Fortschrittlicher Geist

Man kann heute wohl sagen, dass der Aufsatz von Wallace allein niemals die Wirkung von Darwins Buch erzielt hätte. Und ohne Wallace‘s Gedanken über Evolution im Geringsten zu schmälern, lässt sich festhalten, dass er seine Vorstellungen von Selektion nicht so konsequent wie Darwin weitergedacht hatte. Wallace nämlich war Spiritist und glaubte, dass sich in der Natur ein fortschrittlicher "Geist" manifestiere. Schließlich war er im Gegensatz zu Darwin nicht bereit, die Theorie der Evolution durch natürliche Auslese auch auf den Menschen auszudehnen. Paradoxerweise war er es, der den Ausdruck "Darwinismus" als Titel eines umfassenden evolutionstheoretischen Werkes gebrauchte und damit Darwins sowie seine eigene Theorie charakterisierte.

Aber hätte Wallace auch nie etwas über Evolution geschrieben - seine sonstigen Verdienste in der Naturforschung für sich genommen sollten ihm schon ein ehrendes Andenken im Tempel der Wissenschaft sichern.

Literaturhinweis: Matthias Glaubrecht: Am Ende des Archipels. Alfred Russel Wallace. Galiani, Berlin 2013, 300 Seiten.Franz M. Wuketits, geboren 1955, lehrt Wissenschaftstheorie mit dem Schwerpunkt Biowissenschaften an der Universität Wien. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien: "Animal irrationale. Eine kurze (Natur-) Geschichte der Unvernunft", Suhrkamp 2013.