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Rudolf Brunngraber wurde in letzter Zeit als interessanter Romancier wiederentdeckt. Seine Biografie bietet zugleich ein markantes Beispiel für die Anpassungszwänge, denen ein Autor im 20. Jahrhundert ausgesetzt war.
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Er ist während der Nachkriegsjahre der "meistgelesene deutsche Autor in den öffentlichen Büchereien". Seine Werke sind in 18 Sprachen übersetzt und in Millionenauflagen gedruckt. Die sterblichen Überreste des 1960 Verstorbenen liegen in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof. Dennoch ist er, als der Wiener Milena Verlag 2010 seinen Roman "Karl und das 20. Jahrhundert" wieder auflegt, nahezu vergessen: Rudolf Brunngraber. Wie kommt es zu diesem Vergessen?
Rudolf Brunngraber wird 1901 als unehelicher Sohn einer Hilfsarbeiterin aus Mailberg und eines Maurergehilfen aus dem ebenfalls niederösterreichischen Oberstinkenbrunn in Wien Favoriten geboren. Seine Eltern schlagen sich zunächst irgendwie in der Großstadt durch. Glücklicherweise erhalten beide bald eine Stelle bei der Straßenbahn. Doch der Vater verliert diese wegen seiner Alkoholkrankheit schnell wieder. 1914 wird er - in einem Feldlazarett - der Grippe erliegen. Und die Mutter? Sie habe sich infolge der Ereignisse zu einer "steinharten Heiligen" entwickelt, notiert der Sohn 1937 in einer autobiographischen Skizze.
Brillanter Blender
Dieser Sohn indes besteht zunächst einmal die Matura. Im Unterrichtsgegenstand Deutsch liefert er zwar eine derart ungewöhnliche schriftliche Arbeit ab, dass er auch noch zur mündlichen Prüfung antreten muss. Doch bringt er diese glänzend hinter sich - brillierend mit einem nicht zu Unrecht ungeheuer wirkenden, weil nämlich frei erfundenen Zitatenschatz, dem er in seiner Not einfach irgendwelche Dichternamen zuordnet.
Daraufhin bewältigt der junge Mann unter großen Entbehrungen auch noch das Lehramtstudium. Doch trägt es ihm in der allgemeinen Arbeitslosigkeit nicht die erhoffte Stelle ein. So schlägt er sich - unter anderem - als Kinogeiger, Schildermaler, Holzfäller, Kopist alter Meister, Steinbruchtagelöhner und Elfenbeingraveur durch.
1927 tritt Brunngraber in die Sozialdemokratische Partei ein, lehnt es aber, da er prinzipiell gegen die Anwendung von Gewalt eingestellt ist, ab, dem Schutzbund beizutreten. Er wird Bildungsreferent der Partei in Wien. Einer seiner Schüler ist Bruno Kreisky. 1929 verheiratet er sich mit der Halbjüdin Aloisia Gettinger. Und die Geschichte scheint sich zu wiederholen. Das Paar lebt zeitweise von einer Semmel am Tag. Endlich erhält Brunngraber von Oskar Kokstein, dem damaligen Vizepräsidenten der Finanzlandesdirektion Wien, eine Rente, mit der der bildnerisch Begabte an der Wiener Kunstgewerbeschule studieren soll.
Der Schützling jedoch hat nur eines im Kopf: Er schreibt. Und der Mäzen wird ihm die missbräuchliche Verwendung seines Geldes schließlich auch verzeihen müssen. Denn nachdem Otto Neurath den jungen Mann vom Expressionismus kurzerhand zum Sozialismus bekehrt und zum Studium statistischen Materials angehalten hat, gelingt jenem tatsächlich 1932 mit seinem - dem Mäzen gewidmeten - Montageroman "Karl und das 20. Jahrhundert" der Durchbruch als Autor. Und das Thema des Romans könnte aktueller nicht sein. Da kämpft ein Individuum namens Karl Lakner, obschon eine Art Bruder des Franz Biberkopf aus Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz", nicht etwa gegen die Unmenschlichkeit der Großstadt - Karl unterliegt vielmehr einer durch eine Masse von statistischem Material im Text vertretenen Maschinerie unerbittlicher Wirtschaftslogik, einer Logik der Trusts, der Gewinnmaximierung einzelner, welche die politischen Entscheidungen bestimmt und zur Verelendung der Bevölkerung, zu Massenarbeitslosigkeit und Krieg führt.
Unschwer lässt sich in diesem Lebenslauf Karls nun über weite Strecken jener des jungen Brunngraber wiederfinden. Und nicht nur dieser - auch formal äußerst spannende - Roman, den die Gestapo 1933 vorübergehend verbietet, ist eng mit dem Leben Rudolf Brunngrabers verknüpft. Auch der zweite, seit 2011 wieder aufliegende Tatsachenroman "Prozeß auf Tod und Leben", ist seiner persönlichen Geschichte geschuldet, wenn auch auf ganz andere Weise. Das Buch erscheint 1948, drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Erfolge in der NS-Zeit
Goebbels hat in der Zwischenzeit einen anti-englischen Zug in Brunngrabers Roman "Opiumkrieg" zu finden gewusst und den Autor 1939 für eine kurze Audienz sogar nach Berlin einfliegen lassen. Diese Begegnung, sowie die hohen Auflagen, die die Tatsachenromane Brunngrabers in der Nazizeit erreicht haben, machen es allerdings nun nach dem Krieg für den Autor durchaus dringlich, sich, obwohl er beispielsweise nie der Reichskulturkammer angehört hat, schleunigst zu rechtfertigen. Und er wird dies mit ähnlicher Bravour bewerkstelligen, wie er damals seine Maturaprüfung erledigt hat. Denn im Gegensatz zu G.W. Pabst, der seinen "Prozess auf Tod und Leben" verfilmt - erreicht er es nicht nur, sich von jedem Verdacht der Kollaboration freizumachen; nein, es gelingt ihm sogar, mit Schriften wie "Wie es kam. Psychologie des Dritten Reichs" oder "Überwindung des Nihilismus. Betrachtungen eines Aktivisten" an einem ziemlich phantastischen Bild Österreichs mitzumalen, das teilweise bis heute hartnäckig fortbesteht. Ja, er erreicht es sogar, als ein professioneller Maler dieses Bildes eine wichtige Rolle im öffentlichen Identitätsfindungsprozess dieses Nachkriegsösterreichs zu spielen.
Da wird das Land in "Überwindung des Nihilismus" in einem als Kulturnation und als Opfer stilisiert: "Wurden die norddeutschen Erdstriche mit dem großen Kochkolben überstülpt, aus dem ein Gemisch an Friderizianismus und Papua-Bestialität, von Amerikanismus und ,Gartenlaube’ in sie hineinversotten werden sollte, dann handelte es sich um einen Boden, der zwar von Energie geladen, aber an geschichtlich gewachsener Kultur nicht gerade überreich war; Österreich hingegen erlitt in der Vergewaltigung die Abtrennung von Quellen, in denen Ewigkeitswerte perlten."
Da arbeitet er - der an anderer Stelle die "kosmopolitischen Österreicher" von allen nationalistischen Bedürfnissen freispricht - am Drehbuch des von der österreichischen Regierung in Auftrag gegebenen Science-Fiction-Films "1. April 2000" mit, in dem den Alliierten nach 55 Jahren Besatzung mit Hilfe von Mozart, Walzer, Bergen und Wein beigebracht wird, dass Österreich am Ausbruch der beiden Weltkriege überhaupt nicht Schuld haben kann.
Ja, und schließlich hat Rudolf Brunngraber mit "Prozeß auf Tod und Leben" eben den Roman vorgelegt, in dem er sich eindeutig gegen den Antisemitismus stellt: In der ungarischen Gemeinde Tisza-Eszlár verschwindet 1882 die vierzehnjährige Esther Solymosi. Infolge eines Traums behauptet deren Mutter, ihr Kind sei von den Juden des Ortes zum Zwecke der Begehung des Pessachfestes ermordet worden. Und schon drängen Schuldgefühle, Karrierismus, der Wille ungarischer Politiker, Ungarn von Habsburg zu lösen etc. - Interessen unterschiedlichster Art - alle besonnenen und rationalen Kräfte in den Hintergrund. Es kommt in Nyireghyáza zum international beachteten Prozess gegen einen Teil der Juden des Dorfes, der nach langem Hin und Her zugunsten der Angeklagten entschieden werden kann.
Verdrängungen
Interessant und erschreckend an diesem Roman ist aber nun nicht nur das Sujet, sind nicht nur die minutiös nachgezeichneten niederen Motive, die zur Verfolgung der jüdischen Mitbürger durch ihre nichtjüdischen Nachbarn, durch ehrgeizige Politiker und korrupte Beamte führen - erschreckend ist an ihm nicht zuletzt, dass Brunngraber den Schauplatz Ungarn darstellt, als sei er nicht Teil eines österreichisch-ungarischen Staatsgebiets, als habe das damalige Österreich von jenem Fall fast gar nicht Kenntnis genommen. Bewohner eines anderen Weltteils scheinen diese Habsburger zu sein: Elisabeth ist - natürlich - für die Juden; dieser einzige (positive) Hinweis auf das ferne Wien wird eingearbeitet. Des Umstands, dass zu der Zeit auch in Österreich der Antisemitismus bereits einen ersten Führer hatte, nämlich jenen Georg Ritter von Schönerer, der später zu einem der wichtigsten Vorbilder Adolf Hitlers werden wird, tut Brunngraber keine Erwähnung. Und während er die deutsche und russische antisemitische Presse zitiert, scheint ausgerechnet in Wien niemand zu dem Fall Stellung genommen zu haben; und dies, obwohl gerade 1881 unter maßgeblicher Beteilung Karl Luegers und von Schönerers der "Österreichische Reformverein" gegründet worden ist, der im September 1882 das Vorstandsmitglied Ritter von Zerboni zum "Ersten Internationalen Antijüdischen Kongress" nach Dresden schickt.
Nicht zuletzt aber mag auffallen, dass Brunngraber - ob aus mangelnder Sensibilität gegenüber der eigenen Geprägtheit durch das antisemitische Umfeld oder absichtlich - gerade die jüdischen Figuren seines Romans mit antisemitischem Vokabular hantieren lässt. Es sei hier jene Stelle genannt, an der der Tempeldiener Scharf seine vom aufkeimenden Hass der Dorfbevölkerung erschreckte Frau über die in den "Wirtsvölkern" umgehende Vorstellung des Ritualmords aufklärt.
Dass Brunngraber mit der Aufnahme dieses historischen Falles gewissermaßen versucht, die Zeit zurückzudrehen; dass er versucht, seine eigene, aber auch die allgemein österreichische Verstrickung ins NS-Regime und damit die jüngste Verfolgung der jüdischen Bevölkerung aus dem Blickfeld zu retuschieren, gerade indem er an den Schluss des Buches noch schnell einen Hinweissatz zu den 1933 aus Deutschland flüchtenden Juden klebt, macht ihn zweifellos zu einer Art Symbolfigur des schlichtweg Nachkriegsösterreichischen.
Dennoch soll darüber nicht vergessen werden, dass sich der Autor zumindest - in einer seltsamen Art von buchförmiger Entschuldigung vielleicht - auf die Seite der Opfer stellt, dass er versucht, die vielfältigen Wege nachzuzeichnen, die zu Verfolgungen dieser Art führen.
Und natürlich soll auch nicht vergessen werden, "Karl und das 20. Jahrhundert" als ein einzigartiges Stück Prosa aus der österreichischen Literaturgeschichte noch einmal mit Vehemenz zur Lektüre zu empfehlen.
Lisa Spalt, geboren 1970 in Hohenems, lebt als Autorin in Wien.
Letzte Einzelpublikation: "Dings", Czernin Verlag, Wien 2012.
Literaturhinweis:
Rudolf Brunngraber: Karl und das 20. Jahrhundert. Neuauflage 2010.
Prozeß auf Tod und Leben. Neuauflage 2011. Beide Bücher sind im Wiener Milena-Verlag erschienen.