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In den Fängen eines neuen Rentenklaus?

Von Wilhelm Hanisch

Gastkommentare
Wilhelm Hanisch, geboren 1948, ist Sozial- und Wirtschaftswissenschafter mit langjähriger Berufserfahrung in Strategieberatung und Forschungsprojekten für Unternehmen und insbesondere öffentlichen Institutionen (unter anderem Ministerien, Forschungsrat).
© privat

Das Problem der österreichischen Pensionsanpassung zeigt sich besonders beim Vergleich mit dem deutschen System.


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Ältere Mitbürger erinnern sich vielleicht noch an die "Rentenklau"-Plakate der 1950er Jahre mit dem Subtext der damals galoppierende Inflationsgefahr: Tatsächlich wurden die kargen Pensionen der Kriegsgeneration (schlechte, wenig nachweisbare Einkommensverläufe, Verluste von Ersparnissen) schnell weggefressen. Demgegenüber begannen die Einkommen der aktiven Bevölkerung im beginnenden Wirtschaftsaufschwung, nach den sozialpartnerschaftlichen Stabilisierungspaketen, langsam auch real zu steigen.

Deshalb wurden zunächst besonders niedrige Pensionen stufenweise mit Zuschlägen und Aufwertungen bedacht, bevor man zu einem Paradigma der dynamisierten Teilhabe der Pensionisten am Einkommensaufschwung der aktiven Bevölkerung überging. Schließlich wurde mit dem Pensionsanpassungsgesetz 1965 neben dem Inflationsausgleich - wenn auch nicht als Automatismus - eine grundsätzliche Orientierung der Anpassungsfaktoren auch an den Beitragsgrundlagen und damit der Lohnentwicklung etabliert.

Ein (gesetzlicher) Automatismus der Pensionsanpassung (die Rede ist hier zunächst vom ASVG) wurde in Österreich bekanntlich erst mit der Pensionsreform 2004 eingeführt, wo - neben der sukzessive geltenden Lebenseinkommensdurchrechnung bei der Bemessung - ein Anpassungssystem der Bestandspensionen wiederum allein auf Basis der vorjährigen Inflationsrate festgeschrieben wurde. Generelle Intention dieser Reform war die künftige Finanzierungssicherung des Umlagesystems unter dem Eindruck der demografischen Umbrüche im Verhältnis Pensionsbezieher zu Aktiven. Pensionsbezieher der "Golden Jahre" (stetig steigende Beitragsgrundlagen, Bemessung nach den eintrittsnahen Beitragsjahren) sollten dazu einen Beitrag leisten, auch indem die Bestandspensionen nunmehr vom Wirtschaftsfortschritt abgekoppelt wurden.

In der Praxis wirft diese Vorgangsweise seither sowohl finanz- als auch verteilungspolitische Probleme auf, die heuer im Rücktritt des Vorsitzenden der Pensionskommission gipfelten. Laufend wurde von den gesetzlichen Vorgaben abgewichen, je nach Pensionshöhe wurde gestaffelt über Pauschal- und Prozentsätze angepasst, wobei vor allem niedrige Pensionen oftmals über der Inflationsrate, höhere darunter valorisiert wurden. Je nach Standpunkt zeigen sich also Diskriminierungen oder Bevorzugungen, in der Perspektive ist jedenfalls eine Aushöhlung des Systems sichtbar im Sinne einer Verletzung des Prinzips der Beitrags-/Leistungsäquivalenz - und damit des Gleichheitsgrundsatzes -, die auch an die Grenzen des EU-Rechts rührt.

Systemwidrige Sozialtransfer-Funktionen

Das Pensionssystem übernimmt auf diese Weise systemwidrig Sozialtransfer-Funktionen, da auch die Mindesteinkommen der Pensionsbezieher über die Ausgleichszulage zu Lasten der mittleren und höheren Pensionen implizit querfinanziert werden. Eine Argumentation mit dem Solidaritätsprinzip oder mit dem auch die höheren Pensionen begünstigenden Bundeszuschuss ist hier insofern fehl am Platz, als ja auch dieser aus dem Steueraufkommen sowohl der aktiven als auch der pensionierten steuerleistenden Einkommensbezieher stammt.

Bemerkenswert ist, dass die Pensionistenvertreter der beiden Großparteien SPÖ und ÖVP diese Sichtweise und Praxis stets mittragen. Stichhaltiger wäre eine Argumentation zugunsten höherer Bemessung und Anpassung niedriger Pensionen auf Basis des Nachweises einer kürzeren Renteneinkommensgenussphase von deren Beziehern. Im deutschen Rentensystem wurde dies hin und wieder anhand unterschiedlicher Lebenserwartung etwa zwischen Arbeitern und Angestellten thematisiert. Ein solcher Zusammenhang wäre allerdings unter den veränderten Bedingungen der heutigen Erwerbswelt (Frühpensionen, Erwerbs-, Arbeitsprofile) erst präziser zu untersuchen.

Laut eigenen Berechnungen betrugen die kumulierten Anpassungen in den vergangenen zehn Jahren beim österreichischen Äquivalent der Mindestpension mehr als 27 Prozent, bei den übrigen Pensionen dagegen bloß rund 17 Prozent, wodurch nicht einmal die Geldentwertung von seither rund 20 Prozent abgegolten ist und sie somit reale Verluste aufweisen.

Das Problem der österreichischen Pensionsanpassung zeigt sich besonders beim Vergleich mit dem deutschen System (und das bei historischer Ähnlichkeit der beiden Umlagesysteme): Das Grundprinzip der deutschen Rentenanpassung sieht eine Steigerung der Renten konform zu jener der Aktiveinkommen unter Modifizierung durch die Anzahl der Beitragszahler vor; bei konjunkturellen Abschwüngen von Löhnen und Beschäftigung ist allerdings ein Boden von 0 Prozent eingezogen. Auf diese Weise betrugen die deutschen Rentensteigerungen zuletzt 3 Prozent (2019) und 4 Prozent (2020) und werden sich 2022 und 2023 voraussichtlich auf 5 bis 6 Prozent belaufen (2021 bringt krisenbedingt eine Stagnation mit sich). In Österreich betragen im selben Zeitraum die Pensionspassungen magere 1,5 bis 2 Prozent bei den mittleren und 2 bis 3,5 Prozent bei den niedrigen Einkommen.

Sättigungseffekt der "Goldenen Jahre"

Man mag zwar in den dynamischeren Anpassungen der deutschen Bestandsrenten einen Ausgleich zu den gegenüber Österreich traditionell niedrigeren Eintrittshöhen sehen, doch gehört zu einem Prinzip der Bestandssicherung jedenfalls auf mittlere Sicht eben zumindest ein reales Mitziehen der Pensionisten an der wirtschaftlichen Entwicklung der Gesamtgesellschaft. Solche Vergleiche zeigen jedenfalls eines: Ein Währungsraum (Euro als "Geld ohne Staat"), der seit den Covid-Hilfen zumindest temporär zu einem Finanz- und Schuldenraum mutiert ist, würde auf Dauer kaum derart gravierende Unterschiede bei solch wichtigen sozialen Sicherungssystemen vertragen. Zu befürchten ist, dass bei einer Harmonisierungen (Stichwort Transferunion) diese eher als Nivellierung nach unten stattfände.

Die Eindämmungen der höheren Pensionsansprüche und deren Dynamik aus der österreichischen Pensionsreform 2004 mag man noch mit dem Sättigungseffekt der "Goldenen Jahre" rechtfertigen; den jüngeren, seither im Erwerbsleben stehenden, Jahrgängen sei allerdings geraten, die verteilungspolitischen Verwerfungen des gegenwärtigen Anpassungssystems im Auge zu behalten, wenn nicht überhaupt à la longue wieder die Frage einer moderaten Teilhabe der Pensionen an der gesamtwirtschaftlichen Prosperität aufzuwerfen wäre. Dies auch deshalb, weil und sofern kapitalgedeckte Zusatzsysteme insbesondere in Österreich weiterhin nicht in die Gänge zu kommen scheinen.

Langfrist-Prognosen rechnen nämlich - aufgrund von Annahmen wachsender Einkommen - durchaus mit der weiteren Finanzierbarkeit der Pensionen auf Basis der gegenwärtigen Eckparameter, insbesondere hinsichtlich des BIP-Anteils des Bundeszuschusses. Voraussetzung dafür - das ist allerdings auch nicht zu verschweigen - wäre jedoch die Erhaltung beziehungsweise der Ausbau eines entsprechenden Erwerbsniveaus (Stichwort weitere Flexibilisierung des Rentenalters, Frauenerwerbsquote, Einbeziehung von Migranten).•