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Was haben die amerikanische Tea Party und französische Demonstranten, die gegen die Anhebung des Pensionsalters protestieren, gemein? Grundsätzlich gar nichts. Allerdings handelt es sich bei beiden um Unmutsäußerungen gegen den sozialpolitischen Kurs ihrer Regierung. Beide sind ein extremer Ausdruck einer der drei großen politischen Ideologien. In den USA ist das der Liberalismus, in Frankreich der Sozialismus. (Die dritte wäre übrigens der Konservatismus.)
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Europa im Allgemeinen und Frankreich im Speziellen hat historisch eine profunde sozialistische (beziehungsweise sozialdemokratische) Entwicklung durchgemacht. Das lag teilweise an den horrenden Auswüchsen der industriellen Revolution, die Charles Dickens in seinem "David Copperfield" gezeichnet hat und gegen die sich die Menschen aufgelehnt haben. Extreme Armut, Hungertod und gnadenlose Ausbeutung beherrschten das Leben der meisten Leute im 19. Jahrhundert und auch Anfang des 20. Der Begriff des Bettgehers ist als Relikt aus der damaligen Zeit bis heute bekannt. Ein weiteres Anliegen des Sozialismus in Europa war es, die über die Jahrhunderte gewachsene soziale Ungleichheit zu beseitigen. Adel und Bürgertum vererbten ihren Status an die jeweils nächste Generation, während dem Rest eine soziale Entwicklung so gut wie verwehrt blieb. Diese Missstände und diese Ungleichheit wurden durch den Sozialismus großteils behoben. Im traditionell politisch mobilisierten Frankreich demonstrieren die Menschen daher oft gegen soziale Einschnitte, die eine Regierung plant. Denn die stellen für sie einen historischen Rückschritt dar, hin zu der Zeit vor der sozialistischen Entwicklung in Europa. Gleichzeitig ist manch einem bewusst, dass damals die sozialen Errungenschaften vielerorts nur durch eine Revolution errungen werden konnten.
Diese sozialistische Entwicklung kennen die USA in ihrer ganzen Geschichte nicht. Zwar hat es Anfang des 20. Jahrhunderts eine starke soziale Bewegung durch die Gewerkschaften gegeben, die hatten im Endeffekt aber das Nachsehen. Praktisch von der Stunde Null an herrschte in den USA der Liberalismus. "Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied." In kaum einem anderen Land ist diese Maxime ideologisch wahrer als hier. Die USA sind die Heimat von Glücksrittern, die ohne (soziales) Netz den Erfolg suchten. Der Mut zum Risiko ist und war stets gekoppelt an die Einsicht, die alleinige Verantwortung im Falle eines Scheiterns zu tragen.
Siedler sind Ideal
Ebenso fundiert ist der Glaube an harte Arbeit und dass die Fleißigen es zu etwas bringen. Schon in der Schule wird den kleinen Amerikanern das Ideal der ersten Siedler vermittelt, die nur mit ihrer Freiheit, ihrem Mut zum Sturz ins Ungewisse und ihrem harten Arbeitswillen ausgestattet aus dem Nichts die größte Nation der Welt geschaffen haben. Diese Ideale, in ihrer fundamentalsten Form, sind die, auf die die Tea Party Anspruch erhebt. Staatlich vorgeschriebene Gesundheitsvorsorge, finanzielle Unterstützung für Bankrotteure, wie sie Obama gewährleistet hat: Das widerspricht allem, woran sie glauben, das ist für sie Sozialismus.
Was Kritiker dieser Bewegung übersehen, ist, dass dieser Vorwurf nicht ganz aus der Luft gegriffen ist. Offenbar haben die USA einen Punkt in ihrer Geschichte erreicht, in der eine sozialdemokratische Entwicklung (wenn auch nur in vergleichsweise sehr geringem Ausmaß) für viele Menschen attraktiv geworden ist. Und zwar in dem Maße, in dem sich Amerika hin zu den Zuständen des 19. Jahrhunderts in Europa entwickelt. Natürlich ist das Land meilenweit davon entfernt, doch haben sich mittlerweile die sozialen Strukturen bis zu einem gewissen Maß gefestigt. Davon zeugt nicht nur der Kennedy-Clan oder ein George W. Bush, der Präsident wird, nachdem es nur wenige Jahre zuvor sein Vater George H. W. war. Davon Zeugen auch die Familiendynastien im wirtschaftlichen Bereich oder Eliteschulen und Unis, die über die Generationen bereits auffällige Namenswiederholungen aufweisen. Zu der Plutokratie hat sich schon eine Art Erbadel gesellt.
Gleichzeitig werden soziale Missstände offenbar, die nicht mehr mit "selbst schuld kein Mitleid" zu rechtfertigen sind. Jede zehnte Schule ist dem Politikexperten Thomas Mann zufolge eine Katastrophe und oft haben die Kinder keine andere Wahl, als auf eine ebensolche zu gehen. Viele Menschen in den USA arbeiten für einen Hungerlohn, mit dem man in Europa jeden Prozess vor einem Arbeitsgericht gewinnen würde. Oder sie sind bereit, weil sie nur einen Niedrigstlohnjob erhalten, bei ihrer Gesundheitsvorsorge zu sparen, um zumindest die Lebenshaltungskosten decken zu können.
Am Ende des Tages sind die Proteste in Frankreich und den USA die Spitzen zweier entgegengesetzter politischer Ideologien, bei denen jede Seite fürchtet, irgendwann im Lager der anderen zu landen.