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Der deutsche Bundestag beschließt eine Resolution zum Völkermord an den Armeniern. Die Türkei schäumt.
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Berlin. "Gesunden Menschenverstand" - so nennt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan das, was er sich von den deutschen Parlamentariern erwartet. Übersetzt heißt das: Die Abgeordneten des Bundestages sollen am heutigen Donnerstag nicht für den Antrag stimmen mit dem Titel "Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916". Der Antrag wurde von CDU/CSU, SPD und Grünen gemeinsam aufgesetzt. Die Partei "Die Linke" formulierte ein eigenes Papier.
Der türkische Präsident warnt: Würde Deutschland "in diese Falle tappen", beschädigte das die künftigen Beziehungen - "die diplomatischen, wirtschaftlichen, politischen, kommerziellen und militärischen Beziehungen", sagte er Anfang der Woche vor Journalisten in Izmir. Seine Ansichten über die Resolution hatte Erdogan Kanzlerin Angela Merkel (CDU) auch in einem Telefongespräch mitgeteilt.
Für den Vorsitzenden der Grünen, Cem Özdemir, ist das kein Argument gegen die Resolution: "Es kann schon sein, dass es Ärger mit Ankara gibt", sagte Özdemir der "Bild am Sonntag". "Aber der Bundestag lässt sich nicht von einem Despoten wie Herrn Erdogan erpressen." Nach dem Beschluss des Parlaments werde es für die Türkei viel schwerer, den Genozid zu leugnen. "Es ist nicht fair, wenn man den Völkermord an den Armeniern nicht Völkermord nennen darf, nur weil der Staatschef eines anderen Landes dann wütend wird", sagte der armenische Präsident Sersch Sargsjan der "Bild"-Zeitung.
Schätzungsweise bis zu 1,5 Millionen Armenier wurden vor hundert Jahren im Osmanischen Reich ermordet und vertrieben. Den Weltkrieg wollte die jungtürkische Regierung - wie der Innenminister und spätere Regierungschef Mehmet Talât Pascha sagte - dazu nutzen, um mit den sogenannten "inneren Feinden gründlich aufzuräumen".
Die Türkei - Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reichs - verharmlost das Geschehen und weigert sich, von Genozid zu sprechen. Als im vergangenen Jahr das EU-Parlament die Türkei in einer Resolution aufgefordert hatte, die Gewalttaten als Völkermord anzuerkennen, sagte Erdogan schlicht, dies gehe "bei uns zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus". Papst Franziskus, der vom "ersten Völkermord im 20. Jahrhundert" gesprochen hatte, "rügte" und "warnte" der türkische Präsident dafür: "Der geehrte Papst wird diese Art von Fehler höchstwahrscheinlich nicht wieder begehen."
In Deutschland hatten anlässlich des 100. Gedenktages im April 2015 Bundespräsident Joachim Gauck und Parlamentspräsident Norbert Lammert (CDU) von "Völkermord" gesprochen. Im Rahmen eines Gedenkgottesdienstes im Berliner Dom benannte Gauck dabei auch die "Mitverantwortung, unter Umständen sogar Mitschuld der Deutschen am Völkermord". Deutsche Militärs seien an der Planung "und zum Teil auch an der Durchführung der Deportationen beteiligt gewesen".
Der deutsche Türkei-Experte und Journalist Jürgen Gottschlich geht noch einen Schritt weiter. Das Deutsche Reich habe sich aktiv am Genozid beteiligt und - indem es seine türkischen Verbündeten unterstützte - den Völkermord erst ermöglicht. In seinem Buch "Beihilfe zum Völkermord - Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier" zitiert Gottschlich Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg mit den Worten: Das einzige Ziel des Deutschen Reiches sei es, "die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht". Nur das militärisch wichtige Deutschland, sozusagen der große Bruder des Osmanischen Reiches, hätte das Morden beenden können, sagt Gottschlich.
Viele Abwesende
In ihrer Resolution sprechen die deutschen Bundestagsabgeordneten von Union, SPD und Grünen nun eine klare Sprache: "Das Deutsche Reich trägt eine Mitschuld an den Ereignissen", heißt es in dem Antrag zum "Völkermord an den Armeniern". Neu ist auch die eindeutige Bekenntnis zur Bezeichnung "Völkermord". Von den Worten Gaucks und Lammerts abgesehen, hat es das offizielle Deutschland bisher vermieden, von "Genozid" zu sprechen. Monatelang debattierten die Parlamentarier über eine Resolution; die Abstimmung wurde aus Sorge vor der Reaktion der Türkei und vor dem Hintergrund der Gespräche über ein Abkommen in der Flüchtlingsfrage von April auf den heutigen Donnerstag verschoben. Die wichtigsten Regierungsmitglieder fehlen indes auch heute. "Nach derzeitigem Stand" werde Kanzlerin Merkel "aus Termingründen" nicht an der Abstimmung teilnehmen, sagte die stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Wirtz am Mittwoch in Berlin. In der Unionsfraktion habe Merkel aber für die Resolution gestimmt.
Eiertanz um Begriff Völkermord
Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) kündigte an, gleichzeitig zur Abstimmung beim "Tag der Bauindustrie" eine Rede zu halten. Und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) reiste am Mittwochabend nach Argentinien. Im vergangenen Frühjahr hatte Steinmeier für Aufsehen gesorgt, als er eine sprachliche Konstruktion fand, die die eindeutige Bezeichnung "Völkermord" vermied: "Man kann das, was damals geschehen ist, in dem Begriff des Völkermordes zusammenfassen wollen, und ich kann die Gründe dafür und erst recht die Gefühle dazu gut verstehen."
Am Dienstag sagte Steinmeier vor Journalisten, er habe sich "frühzeitig" zu dem Thema in der Öffentlichkeit gemeldet und signalisiert, dass es "notwendig" sei, sich mit "diesem historischen Tatbestand zu beschäftigen". Nicht "so ganz einfach" sei es, einen "historisch komplexen Tatbestand auf einen Begriff zu reduzieren".
Auch die SPD diskutierte viel über die Resolution. Klarer als Frank-Walter Steinmeier wurde die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz. Für Özoguz ist diese "der falsche Weg", da so das "eigentliche Ziel der Aufarbeitung zwischen der Türkei und Armenien erneut in weite Ferne gerückt" werde. Für die Resolution stimmte sie dennoch.
Für Grünen-Chef Özdemir steht indes fest, dass der türkische Präsident eine solche Aufarbeitung ohnehin verhindern wolle.