Kein Strom, kein Gas und wenig Wasser. | Desolate Zustände in den Plattenbauten. | Keiner hat Arbeit, die Kinder bleiben ohne Bildung.
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Kosice. Die Tür zum Büro mit dem riesigen Arbeitstisch ist dick gepolstert, an der Wand hängen Auszeichnungen, sogar eine EU-Fahne steht in der Ecke. Aber die Requisiten können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bürgermeister Dionys Slepcik nicht einem zivilisierten Stadtteil, sondern einem verwahrlosten Ghetto vorsteht. Einer Ansammlung schäbiger Plattenbauten am Rand der ostslowakischen Stadt Kosice, die den rätselhaften Namen Lunik IX trägt und von Verkehrsmitteln und der Müllabfuhr gleichermaßen gemieden wird.
Hier ist die größten Roma-Siedlung Europas. Eine Lärmglocke aus Kindergeschrei liegt über dem Gelände, dunkelhäutige Männer und Frauen sitzen auf Bänken und Betonmauern, schauen teilnahmslos aus den glaslosen Fenstern der Betonburgen. Vierjährige in schmutzigen T-Shirts turnen auf Stiegengeländern, aus großen Metallcontainern steigt Gestank auf, ein kleiner Junge fragt um Geld. Sonst werden Neuankömmlinge ignoriert.
Es gibt Probleme, sagt Bürgermeister Slepcik, selbst ein Rom, seine Gemeinderäte um sich versammelt. "Wir haben in Lunik IX keinen Strom, Wasser gibt es nur zwei Stunden am Tag, zwischen 7 und 8 Uhr in der Früh und 4 und 5 Uhr am Nachmittag. Und das bei der Hitze, wenn die Kinder viel trinken und die Frauen die Wäsche waschen müssen."
Webers Schulden
Seit der letzten Privatisierungswelle ist die Wasserversorgung nicht mehr in städtischer Hand, die Stromversorgung ebenfalls. Die italienischen Firmen wollen Geld sehen, wenn nicht, wird der Strom gesperrt und das Wasser kontingentiert.
Dabei büße man für Fehler, die man selber gar nicht begangen hat, behauptet Slepcik. Hier muss er ein wenig ausholen, denn das Unglück begann schon vor einiger Zeit; vor 20 Jahren etwa, es kann auch länger her sein. Damals sei hier ein Mann namens Weber Bürgermeister gewesen, kein Rom, sondern ein "weißer" Slowake. Der habe das Geld für Strom, Gas und Wasser zwar abkassiert, aber nicht weitergeleitet. Nun sitze man auf einem riesigen Schuldenberg, der nicht abzubezahlen sei. Die öffentlich Bediensteten hätten seit Monaten kein Gehalt mehr bekommen.
Die Wohnverhältnisse in Lunik IX sind unwürdig. Ursprünglich für 1800 Menschen konzipiert, hausen hier 8300 Roma in 560 Wohnungen, im Winter sollen es sogar 10.000 sein. In manchen Einheiten mit knapp 70 Quadratmetern drängen sich 30 Menschen. Arbeit hat hier so gut wie niemand, man ist auf Sozialhilfe angewiesen. Die beträgt 60 Euro pro Monat und Nase, ein Ehepaar mit drei Kindern bekommt 220 Euro. "Wir haben wenig Ausbildung, die meisten Jobs sind von Slowaken besetzt, wir gehen einfach unter", klagt Slepcik. Der Bürgermeister selbst weiß natürlich, wie Arbeit schmeckt. Er sei lange im Ausland gewesen, habe sieben Jahre in Großbritannien und in Deutschland auf dem Bau geschuftet, behauptet er. Alle könnten und wollten arbeiten, so wie er.
Aber man bekommt keine Chance. Die Roma seien hier eingesperrt, die meisten Kinder hätten ein Kino noch nicht von innen gesehen, nur 300 Bewohner von Lunik IX würden regelmäßig in die Stadt kommen. Oft zu Fuß, was gefährlich sei. Erst vor kurzem wären zwei Menschen überfahren worden. "Die ganze Siedlung sollte einfach abgerissen werden", meint Slepcik, denn selbst das Bildungswesen liegt hier im Argen: Zwar gibt es Schulen, doch seien die Lehrer und vor allem die Direktorin schlecht, sie würden den Kindern nichts beibringen, seien unfähig, würden Grundlegendes nicht zustande bringen. 80 Prozent der Kinder würden in Sonderschulen gesteckt, weil es dafür mehr Geld vom Ministerium gebe. Wer die Kinder nicht in die Schule gibt, dem wird ein Teil der Sozialhilfe gestrichen. Ein großer Anreiz, trotzdem sehen die jungen Bewohner von Lunik IX Klassenzimmer selten von innen.
Schandfleck
Szenenwechsel: Im Rathaus von Kosice, in dem Oberbürgermeister Richard Rasi und seine Mitarbeiter amtieren, wird Sekt gereicht. Der Sitzungssaal ist repräsentativ, an den Wänden hängen die Porträts früherer Stadtherren. Was man hier zu hören bekommt, klingt ganz anders.
Immerhin wird Kosice 2013 EU-Kulturhauptstadt, man erhofft zusätzliche Investitionen und mehr Touristen aus dem In- und Ausland. Lunik IX ist ein Schandfleck und schlecht fürs Image.
"Die Stadt ist multikulturell und gleichzeitig nationalbewusst", hebt der Oberbürgermeister an, "ein guter Standort für Unternehmen". Und das mit der Roma-Minderheit sei anders, als es den Anschein habe. Immerhin wären 10.000 Vertreter der Minderheit gut in Kosice integriert, der Gegensatz zwischen Roma und Nichtroma werde leider zu oft überbetont.
Doch Lunik IX existiert und ist ein großes Problem, das muss man auch hier zugeben. Die unbezahlten Strom- und Wasserrechnungen würden eine stattliche Summe ausmachen, von den 560 Wohnungen seien nur zwei ohne Schulden. Dass ein Ex-Bürgermeister Weber für die Misere verantwortlich sein soll, gilt hier als glatte Lüge. Die Schulden seien von den Roma selbst angehäuft worden, "schauen Sie sich doch um in Lunik IX, dann sehen sie die Wahrheit", sagt die Vizebürgermeisterin. Die Leitungen seien einfach angezapft worden, um dann den geraubten Strom weiterzuverkaufen. Gas könne ohnedies nicht mehr nach Lunik IX fließen, denn die Rohre seien willkürlich zerstört worden. Das Wasser werde angesichts der unbezahlten Rechnungen kontingentiert, zudem hätten die Roma den größten Pro-Kopf-Wasserverbrauch in der Slowakei.
Ein Traum zerplatzt
Dabei war ursprünglich alles ganz anders geplant, erinnert man sich an hochfliegende Pläne und geplatzte Träume. Die Plattenbauten von Lunik IX wurden in den 1980ern vom kommunistischen Regime errichtet und waren ein Prestigeprojekt: Tadellose Wohnungen für brave Staatsangestellte sollten es sein, benannt nach dem sowjetischen Raumfahrtprogramm Sputnik und seinen drei Mondsonden, einem Vorhaben, mit dem die UdSSR in den 1950ern den Konkurrenten USA das Fürchten lehrte. Der Inbegriff kommunistischen Selbstbewusstseins.
Die Bauten der nagelneuen Trabantenstadt wurden schließlich zu einem Drittel Armeebediensteten, zu einem Drittel Polizisten und zu einem Drittel den Genossen der Roma-Minderheit zugeteilt. Es dauerte nicht lange, erzählt man im Rathaus von Kosice, bis die Roma in der Mehrheit waren und die Siedlung übernahmen. Schnell fanden sich Familienangehörige aus der ganzen Slowakei ein und bezogen Quartier, die Geburtenrate war und ist ohnedies enorm.
Die Soldaten- und Polizistenfamilien gaben Fersengeld und zogen aus. Roma, die im Stadtzentrum von Kosice wohnten und dieses "devastierten", wie es im Rathaus heißt, wurden in den 90er-Jahren unter dem Oberbürgermeister und späteren Staatspräsidenten Rudolf Schuster in die frei gewordenen Wohnungen von Lunik IX umgesiedelt. Es soll sogar eine eigene Anordnung mit der Nummer 155 gegeben haben, wonach das Stadtzentrum von "Nichtzahlern" zu räumen sei.
Dabei, so erzählt die Roma-Journalistin Jarmila Vanova, wurde fatalerweise nicht auf das komplizierte Kasten- und Clanwesen der Roma Rücksicht genommen. Familien, die einander unter normalen Bedingungen nicht einmal aus der Ferne gegrüßt hätten, wohnten plötzlich Tür an Tür. Ehemals gut Integrierte mussten sich nun Häuser mit Roma-Familien teilen, die noch nie fließendes Wasser zu Gesicht bekommen hatten.
Gesetz des Stärkeren
Es sei zu brutalen Machtkämpfen zwischen den Clans gekommen. Auch heute noch sei das Gefüge in Lunik IX instabil, Auseinandersetzungen an der Tagesordnung. Sippen würden die Macht übernehmen und diese wieder verlieren. Mitten in dieser unwirtlichen Umgebung hat Salesianer-Pater Peter Zatkulak seine Zelte aufgeschlagen. Der Mann um die 30 betreibt in Lunik IX mit einigen weiteren Unentwegten ein Missionars-Projekt.
Das Kirchengebäude ist eben erst fertig geworden, es gibt einen Raum für Messen mit Altar und Kirchenbänken, an der Wand hängt eine wuchtige Skulptur des Erlösers. Es gibt eine Turnhalle, Studierräume, sogar eine kleine Werkstatt. Alles riecht neu und unbenutzt. Bald will der Pater beginnen, die Kinder und Jugendlichen von Lunik IX auf den rechten Weg zu führen.
Dass diese Aufgabe keine leichte wird, ist Zatkulak klar. Der Pater spricht von einer erschreckenden "Armut der Seele", die sich hier breitgemacht habe. Er erzählt von Kindern, die zwar Essen und ein Dach über dem Kopf bekämen, deren Eltern sich aber nicht um ihren Nachwuchs kümmerten. Er erzählt von einem gehbehinderten Mann, der seiner Familie 5 Euro zahlen muss, wenn er einmal ans Sonnenlicht will. Er erzählt von Wucherern, die 100 Prozent Zinsen pro Monat verlangen und ihre Opfer gnadenlos ausbeuten. Er berichtet von Männern, die die Sozialhilfe der gesamten Familie schon am ersten Tagen versaufen und verspielen. Und er kennt nicht wenige Mütter, die ihre 14 Jahre alten Töchter mit auf den Bahnhof-Strich nehmen.
"Die Kleinen betteln und wollen alles gratis, ein Nein akzeptieren sie nicht", sagt Zatkulak. Daher gleicht seine Kirche eher einem Gefängnis denn einem Gotteshaus. Die Fenster sind vergittert und zusätzlich mit Drahtgeflechten gesichert. Die Menschen hier sind verwirrt, klagt der Pater, in ihren Köpfen spuke Mulo, der Geist der Verstorbenen. Alle hier hätten Angst. Die Gespenster seien rachsüchtig und brächten Unglück über die Sippe, wenn ihnen etwas missfalle. Deshalb unternähmen die Hinterbliebenen alles Mögliche, um die Verstorbenen günstig zu stimmen - die Wohnungen neu anstreichen und die Möbel umstellen. Der Besuch der Sonntagsmesse gehört offenbar nicht zu diesen Vorkehrungen.
Er wolle den Roma von Lunik IX das "Geschenk des Glaubens" geben, sagt der Pater, denn nur der Glaube könne die Angst besiegen und ein gottgefälliges Leben ermöglichen. Am 2. September wird sein Zentrum eingeweiht, dann wollen er und sein Helfer mit der Arbeit beginnen.