Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, einst ein Liberaler, wird immer mehr in die nationale Ecke gedrängt. In der Bevölkerung kommt das nicht gut an - seine Werte stürzen ab, ein Ex-Mitarbeiter wird zu einem gefährlichen Rivalen.
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Für einen Gag ist Wolodymyr Selenskyj an sich immer zu haben. Schließlich war der ukrainische Staatschef einst Kabarettist und Schauspieler. Seine Serie "Diener des Volkes", in der er einen Lehrer spielte, der überraschend zum Präsidenten gewählt worden war, wurde nicht nur zur Grundlage seiner Wahl zum Staatschef - sie ist auch durchzogen von ironischen, das ukrainische Politsystem karikierenden Witzen. Und das so sehr, dass sich politische Beobachter den Komiker Selenskyj kaum in der Rolle des Präsidenten vorzustellen vermochten. Manche munkelten 2019 gar, die kommenden fünf Jahre würden ein Desaster für das Land werden.
So schlimm ist es bisher zwar nicht gekommen. Der Honeymoon zwischen Selenskyj und den Ukrainern ist aber definitiv vorbei. Statt des angekündigten Endes des Krieges im Donbass sind die von Selenskyj erzielten Fortschritte wie eine Waffenruhe nicht nur wieder Schnee von gestern. Es stehen auch über 100.000 russische Soldaten an der ukrainischen Grenze. Von einer Aussöhnung mit dem Kreml ist man - auch aufgrund von dessen Unnachgiebigkeit - weit entfernt. Von der Antikorruptionspolitik, um derentwillen Selenskyj gewählt worden war, ist auch nur wenig zu sehen. Dazu machen dem Präsidenten Inflation, die Corona-Krise und steigende Energiepreise zu schaffen.
Konflikt mit Achmetow
Da war es eher unklug von Selenskyj, seine Kritiker daran zu erinnern, dass er eigentlich dem unernsten Fach entstammt: Vergangenen Freitag sprach er in einer Pressekonferenz davon, dass ihm Geheimdienstinformationen von einem bevorstehenden Staatsstreich in Kiew Anfang Dezember vorlägen - innerhalb der gegenwärtigen Spannungen ein durchaus vorstellbares Szenario. An dem Putsch, der von Kräften aus Russland angeleitet sei, solle auch der ukrainische Oligarch Rinat Achmetow beteiligt sein, so Selenskyj. Politische Beobachter in Kiew schüttelten die Köpfe und betrachteten die Meldung, die durch die Weltpresse ging, als nur wenig glaubwürdig. Am späteren Nachmittag distanzierte sich dann auch Selenskyj wieder von seiner Äußerung. "Es gibt keinen Staatsstreich und es wird keinen Staatsstreich geben", erklärte er.
Was es aber gibt, ist ein schwerer Konflikt zwischen dem Präsidenten und Achmetow. Letzteren störten schon länger verschiedene Maßnahmen Selenskyjs wie etwa die massive Erhöhung der Tarife für Güterbeförderung bei der Bahn oder höhere Steuern für die Nutzung von Bodenschätzen.
Die jüngste Verabschiedung eines (allerdings nur wenig wirksamen) Anti-Oligarchen-Gesetzes und - so wird von manchen gemunkelt - der rüde Umgang des Selenskyj-Teams mit Achmetows Leuten (es soll auch zu Schreiduellen gekommen sein) brachten dann das Fass zum Überlaufen: Achmetow, bisher eher traditionell der Obrigkeit verbunden, fühlte sich als reichster Ukrainer auf den Schlips getreten. Die von ihm kontrollierten TV-Sender begannen, gegen Selenskyj Front zu machen. Kritiker des Staatschefs kommen breit zu Wort. Das hat Wirkung: Die Zustimmung zu Selenskyj in Umfragen fällt dramatisch. Lag er im September noch bei mehr als 30 Prozent, so ist er kürzlich bereits unter die 20-Prozent-Grenze gefallen.
Problematische Maßnahmen
Grund dafür ist freilich nicht nur der Konflikt mit Achmetow. Sondern auch die Politik des Präsidenten. Trat der ehemalige Komiker sein Amt als Antipode zu seinem Vorgänger Petro Poroschenko an, hat er sich mittlerweile an dessen Politik angeglichen. Poroschenko hatte wie Ex-Präsident Wiktor Juschtschenko auf einen betont ukrainisch-nationalen Kurs - etwa im Bereich der Geschichts- und Sprachenpolitik - gesetzt und ist damit in dem mehrheitlich russischsprachigen Land gescheitert. Selenskyj wurde gerade vom russischsprachigen Südosten als Mann des Ausgleichs gewählt, der die Politik der Zwangsukrainisierung beenden und inneren Frieden bringen sollte - und nach Möglichkeit eine Normalisierung im Verhältnis zu Moskau.
Stattdessen hat Selenskyj in diesem Jahr betont nationale Duftmarken gesetzt: So hat er nicht nur gegen den Oligarchen Wiktor Medwedtschuk, einen persönlichen Freund des russischen Präsidenten Wladimir Putin, ein Verfahren wegen Hochverrats einleiten lassen. Er hat auch drei TV-Sender und eine viel besuchte Internetseite, die dem russlandfreundlichen Oppositionsblock nahestehen, schließen lassen.
Grundlage dafür war nicht etwa ein Gerichtsurteil, sondern eine Verfügung des Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine - eines reinen Beratungsgremiums, das für eine solche Schließung keine Vollmachten hat. Poroschenko hat sich solche Schritte nicht zugetraut. Selenskyj setzt sie so um wie in der Serie "Diener des Volkes": freihändig und rechtsstaatlich unbedenklich.
Damit zieht sich der Staatschef aber auch die Kritik von Mitstreitern zu. Zum Beispiel die seines ehemaligen Wahlkampfleiters und engen Mitarbeiters Dmytro Rasumkow. Der hatte die rechtlich umstrittenen Maßnahmen Selenskyjs kritisiert - und musste dafür im Oktober seinen Posten als Parlamentspräsident räumen.
Selenskyj könnte diese Entlassung freilich teuer zu stehen kommen. Denn Rasumkow, der mittlerweile von TV-Studio zu TV-Studio gereicht wird (besonders in Achmetows Sendern tritt er gerne auf), könnte im Parlament eine Abgeordnetengruppe um sich scharen - mit Politikern auch aus der Präsidentenpartei "Diener des Volkes". Selenskyj hätte seine (mittlerweile ohnehin wackelige) absolute Mehrheit damit verloren - und Rasumkow hätte eine Basis für eine mögliche Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2024. Der junge, redegewandte Mann aus der Zentralukraine wirkt wie Selenskyj aus dem Jahr 2019: Liberal, reformorientiert, ausgleichend und nicht allzu extrem. In Umfragen bewegt er sich bereits im hohen einstelligen Bereich, Tendenz stark steigend.
Selenskyj hat sich indessen in die nationalistische Sackgasse begeben - freilich ohne dort groß zu punkten: Immer noch ist Poroschenko - einst wie Selenskyj selbst ein Liberaler - innerhalb der nationalistischen Minderheit, die nur rund 10 Prozent der Bevölkerung umfasst, der führende Mann. Immer noch wird Selenskyj als unsicherer Kantonist und potenzieller Russenfreund angesehen - obwohl man seine strittigen Maßnahmen begrüßt.
Die Macht der Nationalisten
Warum aber hat Selenskyj dann diese Kehrtwende vollzogen? Beobachter verweisen darauf, dass die Nationalisten in Kiew deutlich mächtiger sind, als es bei Wahlen den Anschein hat. Erst einmal sind die Radikalen unter ihnen oft mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen und Demonstrationen auf der Straße. Sie schrecken auch von der Anwendung von Gewalt nicht zurück. Und zweitens sind die moderateren Vertreter eines betont nationalen Kurses, die die öffentliche Meinung prägen, auch in den zahlreichen westlich orientierten NGOs in Kiew vertreten - schon aus historischen Gründen: Es waren oft ukrainische Nationalisten, die nach dem Krieg vor der Verfolgung durch die Sowjets in die USA flohen und dort eine einflussreiche Auslandsgemeinde aufbauten.