Zum Hauptinhalt springen

In der Seifenblase

Von Veronika Eschbacher

Politik

Die am meisten umkämpfte Front im russisch-ukrainischen Konflikt ist die um die Deutungshoheit der Ereignisse.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Kiew/Moskau. "Die Menschen werden natürlich alles schlucken", sagte er. "Aber wenn wir die Messlatte niedriger hängen und die Moral fallenlassen, werden wir uns, eines Tages, im Dreck planschend wiederfinden und einander wie Schweine fressen, und nicht tiefer sinken können." Diese zehn Jahre alten, in einer BBC-Sendung getätigten Aussagen über journalistische Praktiken in Russland und die Gefahr der Vermischung von Journalismus und Agitation stammen von Dmitrij Kiselew. Ausgerechnet, mögen manche nun denken. Immerhin gilt Kiselew heute als "Chef-Propagandist" des Kreml.

Ob sich die Kontrahenten im Ukraine-Konflikt heute schon auffressen, darüber kann man streiten. Dass die Beteiligten aufgrund der mit der Krise begonnenen Propagandaschlacht aber bereits tief im Schlamm liegen und eifrigst am anderen knabbern, kann man nicht abstreiten. Und so ist es wenig überraschend, dass ein - vielleicht das tragischste - Opfer der Krise zwischen Moskau und Kiew der Verlust der Wahrheit ist. Denn er ist es, der den ohnehin verunsicherten Menschen in der hart umkämpften Ostukraine endgültig den Boden unter den Füßen wegzieht.

Die Entwicklung hierzu hat mit dem Absturz der Malaysian Airlines einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, setzte aber viel früher ein. Bei all der Flut an Details und Meldungen, die seit Monaten aus dem Konfliktgebiet kommen - sei es über Soziale Medien, Statements oder Erklärungen - scheint allein die Wahrheit die einzige Unbekannte zu sein.

Freilich haben sich die Menschen in der Ostukraine schon nach den ersten Anzeichen ihres Verschwindens auf die Suche nach der Wahrheit gemacht. Sie fanden sich aber bald in einer eigenartigen Situation wieder - als ob man eine endlose Matrjoschka, eine dieser russischen Puppen, öffnet - Hülle um Hülle, um nur doch wieder dasselbe zu finden. Gut, vielleicht etwas kleiner, aber in Wirklichkeit von einer genauso geringen Aussagekraft wie das vorige Stück. Es war die schier endlose Suche nach dem innersten Kern. Wer hat das angezettelt? Wer unterstützt wen? Wer schießt auf wen? Wer ist schuld am Tod meines Ehemannes? Und, traurig genug, war jemand trotz all der Nebelbomben wirklich zum Kern vorgestoßen, so wurde er oft genug gezielt derart verunsichert, dass er ihn fallen ließ wie einen verrotteten Apfel.

Nur kurze Zeit nach Beginn der "Anti-Terror-Operation" der ukrainischen Armee gegen die Aufständischen im Osten Anfang Mai wurde den Bewohnern von Donezk, Slawjansk oder Kramatorsk klar, dass der Kampf um die Deutungshoheit von Ereignissen nicht weniger brutal vor sich ging als der in den weitläufigen Ebenen rund um die verfallenden Industrieanlagen des Donbass mit Waffen ausgetragene. Die Menschen entdeckten, dass es eine zweite Front gab - eine, an der es darum ging, wer besser, schneller und effektiver lügt.

Für die Bewohner der Ostukraine hatte diese zweite Front nicht minder fatale Auswirkungen als die echten Kugeln der plötzlich omnipräsent gewordenen Kalaschnikows. Über Wochen hinweg hörten sie, je nachdem, ob sie den russischen Pervij Kanal oder wenige Knöpfe weiter an der Fernbedienung den ukrainischen Perschij Kanal wählten, täglich zwei einander immer stärker widersprechende Positionen und Deutungen der schrecklichen Geschehnisse in ihrem Land.

Sie begannen zunehmend, an ihrem eigenen Verstand und Urteilsvermögen zu zweifeln. Aufgrund der Vehemenz, mit der beide Parteien ihre Ansichten vertraten, überfiel viele eine völlige Orientierungslosigkeit. Diese gab ihnen das Gefühl, immer hilfloser zu sein in dem sich so schnell drehenden Karussell an blutigen Entwicklungen.

Schutz vor Verunsicherung

Alleine dabei blieb es aber nicht. Während zu Sowjetzeiten die Propaganda vor allem dazu genutzt wurde, um das Volk ruhig zu halten, wiegelt sie heute die Menschen auf. Russen wie Ukrainer sagen, dass sie in der Sowjetära natürlich immer den Verdacht hatten oder ohnehin gewusst hätten, dass vieles, was allabendlich in ihre Wohnzimmer flimmerte, Unsinn war. Und wohl noch mehr einfach verschwiegen wurde. Unter Leonid Breschnew hätte man gar oft darüber gewitzelt. Und: Zu jener Zeit sei ihnen die Wahrheit ohnehin nicht von prinzipieller Bedeutung gewesen. Immerhin habe man gut gelebt.

Zwischenzeitlich schienen die Ostukrainer an einem ähnlichen Punkt angelangt zu sein. Viele hatten im Frühsommer, nach einer weiteren Zunahme der Zusammenstöße und der auf jedem Tropfen vergossenen Blutes - sei es von Soldaten, Separatisten oder Zivilisten - aufbauenden Propagandaschlacht aufgehört, die Nachrichten zu sehen. Sie waren an keiner Seite mehr interessiert. Die Suche nach der Wahrheit hatten sie aufgrund Erfolglosigkeit weitgehend aufgegeben. Die Berichterstattung hatte sie zu sehr aufgeregt und polarisiert, in Familien war bereits unschlichtbarer Streit ausgebrochen zwischen Befürwortern und Gegnern der neuen Führung in Kiew. Insgeheim hatten sie sich aber, um nicht von der völligen Inkongruenz der Positionen der Konfliktseiten zerrissen zu werden, bereits für eine Seite entschieden.

Konflikte sind aber selten unzynisch, und so kam es, dass durch die Ausweitung der Kämpfe die Menschen in der Region alleine aus Sicherheitsgründen vermehrt auf die Konsumation von Nachrichten angewiesen waren. Wer nicht blauäugig mitsamt seinen Einkäufen oder der Enkeltochter in Kampfhandlungen landen will, muss sich informieren.

Um aber nicht wieder in völliger Verunsicherung zu landen, legten sich die Menschen diesmal einen Schutz zu. Sie begannen, sich einzukapseln. Nicht völlig, sondern viel eher wie in einer Seifenblase. Das erlaubt ihnen einerseits einen Blick auf die Geschehnisse. Aber andererseits wird durch ihre eigenen Projektionen auf die Innenseite der Blase die Aussicht so verformt, dass das Gesehene ihrer gewünschten Realität entspricht. Denn: Sich mit Widersprüchen auseinanderzusetzen, dazu hat in dieser herausfordernden Zeit, in der es keine Arbeit gibt, oft keinen Strom oder kein Wasser, die Pensionen nur unterbrochen ausbezahlt werden - und zur Hölle noch mal, Artilleriefeuer von rechts und Mörsergranaten von links kommen - wirklich keiner mehr die Kraft. "Verstehst du, Veronika, das ist eine eigenartige Frage, wie ich die Berichte der ukrainischen Medien sehe", sagt Jurij aus Donezk. "Denn wenn ich ehrlich bin, hinter mir explodiert gerade was." Das Nicht-Mehr-Aushalten von Widersprüchen inkludiert auch, dass die Menschen aufhören, sich mit Freunden zu treffen, die andere Ansichten über die Geschehnisse im Land haben. Auch das ist fatal, denn es bestärkt sie abermals in ihrer speziellen Wahrnehmung - immerhin sehen ihre verbliebenen Freunde die Geschehnisse genau so wie sie. Eine derart einseitige Ausrichtung radikalisiert Menschen.

"Natürlich bin ich auch offen für die Argumente der anderen Seite", wird gesagt. Aber bei genauerer Betrachtung stellt man fest, dass das bei den Bewohnern der Ostukraine kaum mehr stimmt. Denn ihre Seifenblase ist eine Krisen-Seifenblase, und sie ist somit schusssicher. Unpassende Argumente, die das geschützte System zerstören könnten, kommen nicht mehr durch.

Die Fronten sind inzwischen derart verhärtet, dass eine Seite der jeweils anderen vorwirft, in einem Paralleluniversum zu leben. Die Verunglimpfungen der anderen sind derart, dass "der Hass für die nächsten Generationen gesät ist", wie bedauernd versichert wird. Und die wenigsten glauben, dass die Wahrheit auf all die umstrittenen und unklaren Fragen noch ans Licht kommen wird. Sie vergessen dabei, dass die Wahrheit immer im Licht ist, sie ist das Licht. Nur die Menschen wollen nach all den Verletzungen nicht so recht aus ihrer selbst konstruierten Dunkelheit.