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In der Stille der Zelle kehrt der Glaube zurück

Von Christine Hubka

Gastkommentare

Die Mehrheit der Inhaftierten in Österreichs Justizanstalten hat einen mehr oder weniger deutlichen christlichen Hintergrund.


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"Das Gefängnis ist ein spiritueller Ort." Dieser Satz findet sich in der Diplomarbeit der Leiterin der Justizanstalt Wien-Josefstadt. Diesem Fazit einer wissenschaftlichen Untersuchung aus dem Jahr 2002 kann ich als evangelische Gefängnisseelsorgerin nur zustimmen. Derzeit wird das Thema Religion im Gefängnis jedoch ausschließlich auf die islamische Religion reduziert.

Dabei hat die Mehrheit der Inhaftierten in den österreichischen Justizanstalten einen mehr oder weniger deutlichen christlichen Hintergrund. Je nach Herkunft haben sie orthodoxe, römisch-katholische, anglikanische oder protestantische, hier vor allem auch baptistische und pfingstlerische, Wurzeln. Für viele hat Religion in ihrem Leben "draußen" kaum eine Rolle gespielt. Vieles war bedeutsamer, vieles hat sie getrieben, wie die anderen "draußen" auch, deren religiöses Bewusstsein latent ist, verschüttet durch den Alltag und seine Anforderungen.

Der plötzliche Stillstand ab dem Moment der Inhaftierung, der Stopp aller Aktivitäten, der Entzug aller Kommunikationsmittel wie Handy und Internet wirft jeden Einzelnen und jede Einzelne auf sich selber zurück. Da zu Beginn der Haft auch der Kontakt zu Angehörigen und Freunden unterbrochen ist, bekommt das Angebot der Religionen oft schlagartig eine nie zuvor erlebte Bedeutung.

Menschen, die in ihrem Leben noch nie mit einem Pfarrer oder einer Pfarrerin gesprochen haben, denen der Begriff "Seelsorge" noch nie über die Lippen gekommen ist, suchen dann das Gespräch mit einem Vertreter oder einer Vertreterin der Religion. Menschen, die seit Jahren keinen Gottesdienst mehr besucht haben, suchen schriftlich, wie es die Regeln des Gefängnisses vorsehen, um die Teilnahme an einem Gottesdienst an. Dabei besuchen viele auch den Gottesdienst einer anderen Konfession oder Religion als ihrer eigenen.

Wartelisten für die Teilnahme an Gottesdiensten im Gefängnis

Das Strafvollzugsgesetz lässt den Inhaftierten hier absolut freie Wahl. Da aus Sicherheitsgründen die Zahl der Teilnehmenden beschränkt ist, ergeben sich im evangelischen Bereich immer wieder Wartelisten für die Teilnahme am Gottesdienst. Nicht nur zu Weihnachten, sondern jede Woche. Bei den anderen Konfessionen ist es ähnlich.

Diese Gottesdienste berühren mich durch ihre unglaublich dichte Spiritualität. Menschen, die im "normalen Leben" wohl eher selten gesungen und gebetet haben, beteiligen sich konzentriert am Ablauf der schlichten Liturgie. Wenn zum Ende der Feier jeder die Gelegenheit erhält, eine Kerze anzuzünden - eine Ausdrucksform, die besonders bei orthodoxen Christen gebräuchlich ist -, reihen sie sich ohne weitere Anleitung in die Warteschlange ein.

Die Stille im Raum wird durch das leise Spiel des Pianisten gestärkt und getragen. Jeder, der eine Kerze anzündet, verharrt kurz in schweigendem Gebet, macht das Kreuzzeichen oder auch nicht, verbeugt sich, oder auch nicht, und kehrt dann leise und schweigend wieder an seinen Platz zurück. Die Kerzen werden für Angehörige, für Verstorbene oder auch für diejenigen, die durch die Tat betroffen wurden, angezündet.

An Jahres- und Todestagen bitten Insassen um die Teilnahme am Gottesdienst. Und wer vor der Entlassung steht, äußert den Wunsch, für den Neuanfang gesegnet zu werden.

Die evangelische Seelsorge lädt Insassen, die sich intensiver mit der Bibel und dem Glauben befassen wollen, auch dazu ein, im Gottesdienst ihre eigenen Gedanken zu einem biblischen Text vorzutragen. Immer wieder kommt es im Gottesdienst zu spontanen Gesprächen über eine Bibelstelle, an denen sich ein großer Teil der Anwesenden beteiligt. Mich als Predigerin überrascht es immer wieder, dass Insassen Wochen später Gedanken zu meiner Predigt äußern oder sie sogar weitergedacht haben.

Christliche Feste sind auf den inhaltlichen Kern reduziert

Die christlichen Feste wie Weihnachten, Ostern, Pfingsten oder das Totengedenken spielen im Gefängnis eine bedeutende Rolle. In Ermangelung der üblichen Folklore sind sie auf ihren inhaltlichen spirituellen Kern reduziert und erweisen sich als tragfähige Begleiter durch die jeweilige Zeit.

Die Gefängnisseelsorger und -seelsorgerinnen haben die Aufgabe, diese erwachende und erwachte Religiosität zu betreuen, eventuelle Auswüchse in Gesprächen, durch Predigten und sorgsam formulierte Gebete behutsam zu begrenzen. Als sich vor Jahren ein junger Mann in die Überzeugung des baldigen Weltunterganges und der nahenden Apokalypse hineinsteigerte, besuchte ich ihn regelmäßig und las mit ihm die Bibelstellen, auf die er sich bei seinen Aussagen berief. Das Ergebnis war nicht, dass er alle meine theologischen Meinungen teilte. Aber er wurde ruhiger und schleuderte nicht mehr so fanatisch jedem den drohenden Weltuntergang entgegen.

Das Gefängnis als absolute Institution produziert unweigerlich einen verengten Blick auf alle Lebensbereiche, sei es Familie, Justiz, Gesellschaft oder eben Religion. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger aller Religionen und Konfessionen wirken dem nach Kräften entgegen. Nicht nur im religiösen Bereich.