Ultraorthodoxe protestieren gegen die Regenbogenparade in Jerusalem.
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Jerusalem. Vom Jerusalemer Stadtzentrum sind es nur wenige hundert Meter den Hügel hinauf, und schon ist man in Mea Shearim, im Herzen des ultraorthodoxen jüdischen Lebens. An den Zufahrtsstraßen ins Viertel steht auf Warnschildern geschrieben: "Frauen in unpassender Kleidung bitte nicht weitergehen". Touristen, die diese Regeln ignorieren, werden schnell zum Umkehren aufgefordert. Dabei sind die ultraorthodoxen Frauen in den Straßen Inspiration dafür, wie man sich hier zu kleiden hat: knöchellange Röcke und lange Ärmel, zugeknöpfte Blusen und Perücken, unter denen sich geschorene Köpfe verstecken. Das echte Haar von Frauen gilt als anzüglich, ebenso Abbildungen von Frauen im öffentlichen Raum. So auch im Musikgeschäft des 32-jährigen Ultraorthodoxen Dani Shenvar.
"Diese CD ist gerade ziemlich In", sagt er, und legt die Scheibe zur Demonstration in die Stereoanlage. Von den Regalen blitzen hunderte CD-Covers, doch auf keinem einzigen ist eine Frau zu sehen. Das sei einfach nicht koscher, sagt Dani. Auch von den Buchhandlungen des Viertels kann man die Eigenheiten des ultraorthodoxen Lebens ablesen. "Ich will nur einmal heiraten", lautet etwa der Titel eines englischsprachigen Buchtitels, der vor dem Geschäft zur Ansicht aufliegt. Darin finden sich Ratschläge darüber, wie man schon beim ersten Date sichergeht, ob man jemanden heiraten will. Ratschläge, die in der Welt der strengreligiösen viel wert sind. Denn für lange Romanzen gibt es hier weder Zeit noch Platz. Schon nach wenigen Treffen müssen sich potenzielle Partner entscheiden. Bars und Kaffeehäuser gibt es nur im anderen Jerusalem, außerhalb der Grenzen von Mea Shearim. Vieles, was dort draußen alltäglich ist, gilt drinnen als Tabu.
Das wurde auch bei der Jerusalemer Regenbogenparade deutlich, die diesen Donnerstag stattgefunden hat. Als Zeichen der Ablehnung von Schwulen und Lesben hielten hunderte Ultraorthodoxe eine Gegendemonstration ab. Dabei brachten Aktivisten auch Esel zum Einsatz, als Symbol ihrer Verachtung der Homosexualität. "Ich bin ein stolzer Esel", sprühten die Ultraorthodoxen auf Leintücher, die den Tieren umgehängt wurden. Sogar ein Esel habe mehr Stolz als ein Homosexueller. Auf einem Transparent stand, dass "alle Juden gemeinsam für das heilige Jerusalem" kämpfen. Homosexualität entweihe Jerusalem, das heilig ist, weil irgendwann der Messias dorthin zurückkehren werde.
Wirtschaftlich unproduktiv
Die rund 800.000 israelischen Ultraorthodoxen bewegen sich nicht nur in Sachen Lebenseinstellung in einer eigenen Welt. Auch die Wirtschaft läuft für sie nach anderen Spielregeln. Mit durchschnittlich acht Kindern pro Familie sind sie die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe. Gleichzeitig arbeiten sie weniger als alle anderen. Stattdessen studieren sie in Religionsschulen und werden dabei vom Staat gefördert. Rund 530 Euro an Zuwendungen bekommt eine durchschnittliche ultraorthodoxe Familie pro Monat. Zusätzlich erhalten die Männer Stipendien und Geld aus gemeinnützigen Stiftungen, sodass bis zu 950 Euro in den frommen Haushalt fließen, ohne dass Mann und Frau dafür arbeiten müssten. Das ist mehr als der monatliche Mindestlohn in Israel. Es überrascht also nicht, dass nur 45 Prozent aller ultraorthodoxen Männer arbeiten. Zwar sind 60 Prozent der Frauen berufstätig, doch insgesamt liegt die ultraorthodoxe Gemeinschaft dem Staat und seinen Steuerzahlern schwer auf der Tasche. Das kritisieren zumindest Teile der israelischen Gesellschaft.
"Ultraorthodoxe geben der Gesellschaft insgesamt viel weniger, als sie sich herausnehmen", sagt etwa Yoel Finkelman, ein israelischer Experte für zeitgenössisches Judentum. Dass die frommen Israelis bisher auch von der Wehrpflicht ausgenommen waren, ärgert viele besonders. Während andere ihr Leben riskieren und hart schuften, studieren die Religiösen ein Leben lang auf Staatskosten, heißt es. Doch die Dinge ändern sich langsam.
Schon in einem Monat soll das israelische Militär einen Plan zur Einberufung einiger tausend Ultraorthodoxer vorlegen. Das könnte wiederum auch die Beschäftigungsrate der Strenggläubigen erhöhen, weil der Militärdienst in Israel auch ein Sprungbrett in die Arbeitswelt ist. Denn für einen besseren Einstieg ins unabhängige Leben bekommen Armeeabgänger Geld und Privilegien.
Orthodoxe wollen arbeiten
"Ich glaube nicht, dass sich irgendetwas ändern wird", sagt Dani Shenvar im Musikgeschäft, und schüttelt den Kopf. "Die Politiker reden immer darüber, uns zur Armee einzuberufen. Aber komm in zehn Jahren wieder, und alles wird gleich sein." Er gehört zu den 45 Prozent ultraorthodoxer Männer, die arbeiten. Das sei auch nötig, denn nur so könne er seine drei Kinder ernähren. Als Student hätte er statt seinem jetzigen Einkommen von 1500 Euro nur einige hundert Euro zur Verfügung. "Es geht einfach nicht mehr ohne Arbeit", sagt er.
Geht es nach der israelischen Stiftung Kemach, denken immer mehr Ultraorthodoxe so wie er. Die Aussicht auf ein besseres Leben und steigender wirtschaftlicher Druck mache Arbeit immer attraktiver, so Kemach. Das hebräische Wort Kemach bedeutet Mehl. Und das spielt auf ein jüdisches Sprichwort an: Ohne Mehl keine Torah. Ohne Torah kein Mehl. Religion alleine reicht also nicht, Arbeit alleine auch nicht. Deshalb hat Kemach in den letzten drei Jahren Stipendien an 6000 ultraorthodoxe Studenten vergeben, die Hälfte davon für Berufsschulen.
Mit 10 Millionen US-Dollar für das Jahr 2012 wollen die amerikanisch-jüdischen Geldgeber hinter der Stiftung den Ultraorthodoxen in Israel eine Chance geben. Ihre niedrige Beschäftigungsrate gefährdet mitunter auch Israels Wirtschaft. Schon jetzt stellen die strenggläubigen rund 10 Prozent der 7,7 Millionen Israelis. Im Jahr 2034 werden es laut Prognosen 20 Prozent sein.
Doch wie viele abgeschiedene Gemeinschaften ist auch die Welt der Ultraorthodoxen teils resistent gegen Veränderung. Die Welt der Lohnarbeit bleibt weiterhin für viele Haredim verschlossen, weil sie diese Welt verabscheuen, sagt Yoel Finkelman. "Diese Abscheu sitzt tief in ihrer Ideologie fest. Die einzig sinnvolle Tätigkeit ist aus der Sicht vieler das Religionsstudium."
Juden im österreichischen Bundesheer - Seite 14