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In die Hauptschule oder aufs Gym?

Von Michael Schmölzer

Politik

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Ferdinand der Gütige, Habsburger seines Zeichens, war bekanntlich ein rechter Einfaltspinsel vor dem Herrn. Das machte aber gar nichts. Denn mit dem richtigen Wappen im Hintergrund war man anno dazumal auch mit vergleichsweise niedrigem IQ bereits ein gemachter Mann. Und so kam es, dass zu den Zeiten, als Könige und Herzöge die Zügel fest in der Hand hielten, auch eher bescheidenen Gemütern ohne mit der Wimper zu zucken gesellschaftliche Führungsaufgaben, Macht, Geld und alles, was dazugehört übertragen wurde - von Gottes Gnaden sozusagen. Im späten 18. Jahrhundert wurde es dann für die adeligen Durchlauchten bereits etwas enger, denn im Zuge der Französischen Revolution verlangte das Bürgertum nach seinem Recht. Ein Nachfahre Karls des Großen verschiedensten Grades zu sein, reichte plötzlich nicht mehr aus. Von nun an galt die Devise: Wer etwas sein will, der muss es sich verdienen, der muss etwas leisten. Und das zu allererst in einer Anstalt, die unter dem Begriff "Schule" allen wohl bekannt ist. In dieser, unter der Jugend eher unbeliebten Einrichtung, lernt man nicht nur, wie man sich richtig benimmt, vor allem wird dort festgestellt, wer was taugt und wer nicht. In Österreich geschieht das auf eine Weise, die seit Jahrzehnten immer wieder heftige Diskussionen auslöst.

Wer bei einem Bewerbungsgespräch auf eine fundierte Sonderschulausbildung verweist, kann im Normalfall gleich wieder einpacken. Ist man stolzer Besitzer eines Hauptschulabschlusses, geht es einem ähnlich. Vor allem in Zeiten, wo Jobs rar sind und die Personalchefs wählerisch. Will man sein Leben nicht als Sozialfall oder bestenfalls den Besen schwingend beenden, muss man zumindest eine ordentlichen Lehre absolviert haben. Noch besser: eine weiterführende Schule, am besten: Matura. Dass dem so ist, lehrt die tägliche gesellschaftliche Praxis und kann von niemandem bestritten werden.

Ausnahmen bestätigen Regel

Freilich: Es gibt sie, diese besonders Begnadeten, die, - auch ohne dass sie jemals nennenswerte Bildung erhalten haben - im Porsche vorfahren können, über ein Heer von Mitarbeitern verfügen und in der Villa logieren. Doch diese Ausnahmefälle sind extrem dünn gesät und werden in Österreich gemeinhin als "Bunte Hunde" gehandelt. Möglichkeiten eröffnen sich dieser Spezies vor allem als Rock-Ikone, findiger Geschäftsmensch oder aber in der Politik. Hat es ein von Bildung Unbeleckter einmal soweit gebracht, ist er ein derartiger Sonderfall und mit Recht stolz auf seinen Werdegang, dass er niemals vergisst, auf diesen Tatbestand als besonderes Prädikat hinzuweisen: "Begann seine berufliche Laufbahn als Hilfsarbeiter" steht dann im Lebenslauf so manches Nationalratsabgeordneten. Andere politisch Tätige machen aus der Not keine Tugend und schmücken sich manchmal mit einem falschen Uni-Titel.

Dass zu Amt und Würden gekommene Akademiker in vertrautem Kreise nicht müde werden zu betonen, wie schlimm und schlecht sie in der Schule gewesen seien, ändert auch nichts an dem Faktum der entscheidenden Funktion dieser Anstalt für die Verteilung künftiger Lebenschancen. Denn letzten Endes hat man es "doch noch geschafft" und die geforderte Pflichtübung durchlaufen. Und: Wer kann es sich im Nachhinein schon erlauben, im Freundeskreis als geistloser Streber punkten zu wollen?

Das "Glück" desjenigen "Tüchtigen", der ohne höhere Bildungsweihe Karriere macht, ist wie gesagt nur wenigen beschieden. Das wissen in Österreich vor allem die Eltern, die besorgt den Werdegang ihrer hoffnungsfrohen Zöglinge beäugen. Entrisch wirds dann, wenn Filius oder Tochter das entscheidende Alter von zehn Jahren und die vierte Klasse der Volksschule erreicht hat. Denn in diesem Alter fällt in Österreich die Entscheidung: Hauptschule oder Unterstufe des Gymnasiums, die Spreu wird vom Weizen getrennt und die Stunde der Wahrheit ist gekommen. Ehrgeizige und wohlmeinende Eltern machen ihren Kindern gehörig Dampf unter dem Hintern, miese Noten könnten gerade jetzt die Zukunft für immer verbauen. Da nützt auch die Beteuerung der Bildungspolitiker nichts, die von der "prinzipiellen Durchlässigkeit des österreichischen Schulsystems" reden und behaupten: "Hauptschule ist keine Sackgasse". Auf diese Worte gibt man in Österreich allgemein nicht viel und liegt dabei vielleicht gar nicht so falsch.

Ehrgeiz der Eltern

Haben die Eltern selber eine Höhere Schule besucht oder gar studiert, ist der Erfolgsdruck auf den Nachwuchs ganz besonders groß. Man will sich die Schande erst gar nicht vorstellen, wenn es der Stammhalter vielleicht nicht schafft und via Hauptschule quasi den direkten Weg ins gesellschaftliche Nichts antreten müsste. Vor allem in den österreichischen Großstädten wird so gedacht. Dann gibt es die Eltern, die selber "nur" in der Hauptschule waren und jetzt im Beruf an der Werkbank stehen. Manche von ihnen wollen, dass es ihre Kinder einmal "besser haben" sollen, vielleicht sogar Ingenieur werden. Diese Eltern können auch sehr ehrgeizig sein, wenn auch nicht ganz so oft und mit der gleichen Intensität wie ihre etablierteren, höher gebildeten Kollegen.

Wenn der Nachwuchs dann nicht so will, wie die Eltern es sich vorstellen, und das kommt vor, spielen sich in Österreichs Haushalten so um die Zeit der Zeugnisverteilung regelmäßig wahre Dramen ab. Denn man muss in der 4. Volksschulklasse in den wichtigsten Fächern ein "Sehr gut" oder ein "Gut" haben, sonst ist die Aufnahme an eine Mittelschule fraglich. Gibt es Probleme, dann tobt der ehrgeizige Vater, Tochter oder Sohn sind in Tränen aufgelöst, manchmal setzt es auch Watschen und Kinderpsychologen haben viel zu tun.

Dann gibt es andere Schüler, die haben zwar lauter gute Noten, kommen aber trotzdem "nur" in die Hauptschule, weil

- kein Gymnasium in der unmittelbaren Nähe ist

- dem täglich hart auf der Baustelle arbeitenden Vater die Möglichkeit, dass seine Kinder aufs Gymnasium gehen, irgendwie suspekt ist, weil es das weder bei ihm gab, noch bei jemandem, den er kennt. Das Kind soll gefälligst später etwas "Handfestes" lernen und möglichst schnell arbeiten gehen und das Familienbudget nicht unnötig lange belasten.

- oft trifft beides zu.

Gemeinhin wird in Österreich dennoch davon ausgegangen, dass sich die "gescheiteren" Jungs und Mädels eher in den Mittelschulen tummeln, während in den Hauptschulen der begabungsmäßige Durchschnitt sitzt, der in seinem späteren Leben einem Handwerk zusprechen wird und daher seine Gehirnzellen nicht unnötig strapazieren sollte. Den Verdacht, dass in punkto dieser Überlegung vielleicht etwas nicht stimmen könnte, hegt vor allem die österreichische Sozialdemokratie, seit es diese Republik gibt.

Otto Glöckel

Ein Vertreter dieser politischen Richtung war sich dessen sogar sicher. Sein Name: Otto Glöckel. Seine Lebensdaten: 1874 bis 1935. Sein Programm: Eine gemeinsame Schule für alle 10- bis 14-Jährigen. Im Namen der Gleichheit und Gerechtigkeit für alle. Und vor allem: Es sei dies ein Gebot der Demokratie und der eben erst ausgerufenen Republik. Mit dem Gedanken konnte sich allerdings die Christlichsoziale Partei, Vorläuferin der heutigen ÖVP, die Partei, die den Bildungsbürger zu seiner fixen Klientel rechnen durfte, nicht so richtig anfreunden. Im schlimmsten Fall hätte das ja bedeutet, dass die Hofratstochter bis zu ihrem 14. Lebensjahr dieselbe Schulbank mit dem ungehobelten Nachwuchs des Kanalräumers hätte drücken müssen. Ohne Aussicht, sich in eine elitäre Anstalt für höhere Töchter absetzen zu können. Was zur damaligen Zeit in den USA bereits gang und gäbe war, war in Österreich ein Affront ohne gleichen. Zur Ehrenrettung der damaligen Christlichsozialen sei allerdings gesagt, dass nicht nur reiner Standesdünkel für die Ablehnung des Einheitsschulgedankens ausschlaggebend war. Vielmehr war es so, dass die beiden Großparteien zu jener Zeit allgemein nicht gut aufeinander zu sprechen waren. Die bürgerlichen Kräfte befürchteten mit jedem Tag den Ausbruch eines proletarischen Umsturzes, die Sozialdemokratie tat nicht viel, um diese Ängste zu entkräften. Zumindest ihre politischen Parolen klangen damals sehr revolutionär.

So kam es, dass so gut wie jede Forderung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei fast reflexartig auf erbitterten Widerstand der Gegenseite stieß. Im Falle der von Glöckel vorgeschlagenen Reformen befürchtete man blanken "Schulbolschewismus" und platte "Gleichmacherei". Die christlichsoziale Tageszeitung "Reichspost" verstieg sich sogar zu der Behauptung, dass Glöckels Idee eine jüdische Erfindung sei, die die Herrschaft der Semiten über die Mittelschule zwangsläufig nach sich zöge. Vor diesem emotional aufgeheizten politischen Hintergrund war es für Glöckel natürlich kein Leichtes, seine progressiven und vernünftigen Ideen in die Tat umzusetzen. Immerhin gelang es ihm, im pädagogisch-didaktischen Bereich einiges zu ändern. So ist es ihm zu verdanken, dass die autoritären Prinzipien unterworfene k.u.k. "Drillschule" ihren Lehrplan mehr auf die Bedürfnisse des Kindes umstellte, der sich nun humaner und erfahrungsnäher gestaltete.

Aus der geplanten "Einheitsschule" - gemeinsamer Unterricht für alle 10 bis 14-Jährigen - wurde freilich nichts. Stattdessen erwirkte Glöckel die zunächst versuchsweise Einrichtung der vierjährigen Hauptschule ab 1927 - Ein klarer Fortschritt. Zuvor gab es für alle, die nicht ins Gymnasium, Realgymnasium oder in die Realschule gingen, nur die "Bürgerschule". Die dauerte drei Jahre, war der städtischen Jugend vorbehalten und vom Bildungsangebot nicht gerade reichhaltig. Am offenen Lande war die Situation noch um einiges trister. Dort besuchte das Gros der Schüler bis zum 14. Lebensjahr die Volksschule. Die Lehrer mussten sich in der Kunst des Simultanunterrichtens üben, da nicht jeder Jahrgang über ein eigenes Klassenzimmer samt Pädagogen verfügte.

Abgewürgt wurde Glöckels Schaffen schließlich 1934, als die Christlichsozialen den Lockungen der Diktatur nicht länger widerstanden, fast alle der Sozialdemokratie nahe stehenden Lehrer und Direktoren ihres Amtes enthoben und sich einer diffusen Ständeideologie hingaben. Glöckel selbst wurde im austrofaschistischen Anhaltelager Wöllersdorf interniert.

Während der Zweiten Republik gab es dann periodisch aufflackernde Diskussionen, ob die Einheitsschule - jetzt unter dem Begriff "Integrierte Gesamtschule" im Regelschulwesen einzuführen sei, oder nicht. Die Sozialdemokratie war stets dafür, die ÖVP immer strikt dagegen. Wobei man sich öfters des Verdachtes nicht erwehren konnte, dass auch die SPÖ nicht mehr so recht an Glöckels Ideale glaubte. So war es ein roter Unterrichtsminister, der 1985 nicht auf der wortgetreuen Identität des Hauptschul- und AHS-Unterstufenlehrplanes bestand, obwohl das über dem Verordnungsweg möglich gewesen wäre.

Die Lehre von der Begabung

Das Kernargument derer, die die Beibehaltung der Trennung von Hauptschule und Gymnasium befürworten, war dabei von jeher, man müsse dem unterschiedlichen Begabungsniveau unter den Kindern Rechnung tragen: Die "Dummen" in die eine, die "G´scheiten" in die andere. Folgerichtig ist daraus zu ersehen, dass im Wiener Nobelbezirk Hietzing

70 Prozent der Jugendlichen Intelligenzbolzen sind, während sich in Simmering 60 Prozent Dodeln ein Stelldichein geben. Die wahren Motive der Gesamtschulgegner haben sich seit der Zwischenkriegszeit nicht wesentlich verändert: Soziale Segregation unter dem Vorwand der Rücksichtnahme auf die "Begabteren" und damit Aufrechterhaltung von prestigemäßigen Vorteilen für den ohnehin schon privilegierten Teil der Bevölkerung. Abgeschwächt wurde das Ganze ab den 70-er Jahren, als die Mittelschulen vor allem im städtischen Bereich ihren elitären Charakter zumindest teilweise verloren und Jugendliche über die Hauptschule vermehrt in die Berufsbildenden Höheren Schulen strömten.

Jetzt ist das Duale Schulsystem in Österreich kurzfristig wieder ins Gerede gekommen: ÖVP-Bildungssprecher Werner Amon stellte, flankiert vom FP-Abgeordneten Karl Schweitzer, eine Aufnahmsprüfung zur AHS im Sinne eines Prognoseverfahrens in Aussicht. Durch diese Maßnahme sollte die Attraktivität der Hauptschule, die im städtischen Bereich zur "Restschule" verkomme, angehoben werden. Der Verdacht darf geäußert werden, dass es Amon in erster Linie um eine Re-Elitisierung der AHS geht. Zur Entkrampfung der ohnedies schon verkorksten Situation, der Österreichs Schüler ausgesetzt sind, hat sein Vorschlag sicher nicht beigetragen.