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Offizieller Start der Beitrittsverhandlungen im Mai. | Türkische Wirtschaft wächst weiter in hohem Tempo. | Wiener Zeitung: "Herr Minister, die Türkei ist ein Sonderfall in jeder Beziehung, sagt der Vize-Präsident der EU-Kommission, Günter Verheugen - vielleicht in zehn Jahren werde man über eine dann verwandelte Türkei entscheiden. Haben Sie als türkischer EU--Chefverhandler das Gefühl, dass Europa den Beitritt ihres Landes so lange wie möglich hinausschieben will?
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Ali Babacan: Es ist seit dem 3. Oktober 2005, als offiziell beschlossen wurde, die Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, alles auf gutem Weg. Es gibt 35 Kapitel, bei 13 davon haben wir das "Screening", die Bestandsaufnahme, schon fertig, bis Oktober sollte das bei den übrigen auch der Fall sein.
Wir haben von der österreichischen Präsidentschaft vor drei Wochen die Einladung bekommen, das erste Kapitel, das Wissenschaft und Forschung umfasst, zu eröffnen. Die offizielle Zeremonie wird im Mai stattfinden. Auch das zweite Kapitel, Bildung und Kultur, sollte noch während des österreichischen Ratsvorsitzes eröffnet werden. Und dann eines nach dem anderen. Wir sind auf dem Weg.
Die Stimmung in vielen Ländern und auch im Europäischen Parlament ist zuletzt deutlich kritischer geworden, was Erweiterungen der Union betrifft. Europa könne sich wohl einen Beitritt der Türkei auf absehbare Zeit schon rein wirtschaftlich gar nicht leisten, heißt es von den Kritikern.
Dazu muss man sich ansehen, was in der Türkei vorangeht. Wir haben es im Jahr 2004 erstmals seit mehr als drei Jahrzehnten geschafft, die Inflation auf einen einstelligen Prozentsatz zu drücken. Für Ende 2005 hatten wir das Ziel von 8 Prozent gesetzt, erreicht haben wir 7,7 Prozent. Für heuer peilen wir einen weiteren Rückgang auf 5 Prozent an.
Reden wir vom Wirtschaftwachstum: 2003 haben wir 5,9 Prozent erreicht, 2004 sogar 9,9 Prozent, 2005 auch wieder 5,5 Prozent. Wir werden in den nächsten fünf bis zehn Jahren unsere Wirtschaftsleistung im Schnitt jedes Jahr um sechs bis sieben Prozent steigern - das ist ein gut dreimal so starkes Wachstum wie in der EU-15. Im Vorjahr haben wir sogar erstmals ein Maastricht-Kriterium erfüllt: Das Budgetdefizit sank auf zwei Prozent. 2008 könnten wir wohl auch die anderen Maastricht-Kriterien erfüllen. Kaufkraftbereinigt haben wir beim Pro-Kopf-Einkommen im Vorjahr Bulgarien und Rumänien überholt - zwei Länder die demnächst Mitglieder der Europäischen Union sein werden.
Große Probleme sehen Ökonomen allerdings in der Landwirtschaft, der Schattenwirtschaft, der Arbeitslosigkeit.
Es stimmt, die Arbeitslosenrate liegt jetzt schon drei Jahre lang immer noch über zehn Prozent. Aber andererseits ist die Zahl der Beschäftigten stark gestiegen - weil es gelungen ist, die neuen jungen Arbeitskräfte zu beschäftigen, aber auch, weil nach den Steuersenkungen viele aus der Schattenwirtschaft herausgeholt werden konnten. Der "informelle" Sektor ist aber immer noch zu groß.
Wir haben Strukturreformen durchgeführt, die die gesamte Wirtschaft - und damit das Land - nachhaltig verändern. Wir haben die Steuern gesenkt, Privatisierungen vorangetrieben und modernisieren die Verwaltung. Jetzt gehen wir eine Reform der Sozialversicherung an - denn wenn wir hier rasch die richtigen Schritte setzen, dann kommen wir in die Probleme, die viele europäische Länder jetzt bei den Pensionssystemen zu bewältigen haben, gar nicht erst hinein - natürlich auch deshalb, weil wir ein Land mit einer jungen Bevölkerung sind.
Vermutlich zehn bis fünfzehn Jahre werden erforderlich sein, bis die Türkei alle Kriterien für einen EU-Beitritt erfüllt, sagte EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn kürzlich in einem Interview - aber die Reise selbst sei mindestens so wichtig wie das Endziel. Sollte es wirklich so lange dauern?
Ich glaube nicht, dass es so lange dauert. Aber ich gebe ihm recht, dass die Reise selbst schon sehr wichtig ist. Seit wir eine klare Orientierung in Richtung Europa haben, ist auch unsere Wirtschaft viel internationaler geworden. Unser Außenhandel hat im Vorjahr ein Rekordvolumen von 190 Milliarden Dollar erreicht, der Wert unserer Exporte ist 2005 auf 73 Milliarden Dollar angestiegen - mehr als doppelt so viel wie noch 2002.
Und, was vielleicht noch wichtiger ist: Die ausländischen Direktinvestitionen, die zehn Jahre lang immer bei rund einer Milliarde Dollar pro Jahr stagnierten, sind im Vorjahr auf fast das Zehnfache, auf 9,8 Milliarden Dollar gestiegen. Man glaubt mittlerweile sowohl an unsere Wachstumskraft als auch an unsere Stabilität. Und wir sind nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch die Brücke zu den Ländern des Mittleren Ostens und rund ums Kaspische Meer.
Fünfzehn Jahre, zehn Jahre, oder doch viel weniger - wie lange wird es Ihrer persönlichen Meinung nach dauern, bis die Türkei beitreten kann?
Ich glaube, dass wir die 35 Verhandlungskapitel in fünf bis sechs Jahren abschließen können. Dann ist es eine Frage der politischen Situation in Europa. Eines steht fest: Wir werden in ein paar Jahren, in fünf, sechs, vielleicht in acht Jahre, ein ganz anderes Land sein. Und, auch da sind wir ganz zuversichtlich, wir kommen nicht als Belastung nach Europa, sondern als Bereicherung.
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