Beim Gipfel beschworen die Staats- und Regierungschefs die Einheit der EU - doch deren künftige Richtung ist offen.
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Rom. Andrea Pozzo hatte seine eigene Vision von Europa. Den Vorstellungen seiner Zeit entsprechend stellte der italienische Maler den Kontinent als königliche Frau mit Zepter und Weltkugel dar und machte ihn Ende des 17. Jahrhunderts zum Teil seines gewaltigen Deckenfreskos in der Jesuitenkirche Sant’Ignazio im Zentrum Roms. Als Allegorie für die anderen drei Erdteile - Australien wurde damals noch nicht mitgezählt - dienten übrigens ebenfalls Frauen. Doch Europa stach heraus: Sie beherrschte die Welt.
Das hat sich freilich im Laufe der späteren 300 Jahre gewandelt. Und die veränderte Position Europas zeigt sich auf unterschiedlichen Gebieten. Machten die Einwohner dieses Kontinents um 1900 noch ein Viertel der Weltbevölkerung aus, sind es jetzt gerade einmal sechs Prozent. Der Anteil der heutigen EU-Staaten am globalen Bruttoinlandsprodukt sinkt, und auch der Euro erhält immer mehr Konkurrenz von anderen Währungen. Dennoch strahlt Europa noch immer genug Attraktivität aus: Die lebenswertesten Städte liegen hier, der Wohlfahrtstaat ist in weiten Teilen ausgeprägt, die Gesundheitsversorgung funktioniert, etliche Unternehmen prosperieren.
Was ist also los "mit dir, humanistisches Europa, du Verfechterin der Menschenrechte, der Demokratie und der Freiheit"? Das fragte Papst Franziskus im Vorjahr, als ihm der Aachener Karlspreis verliehen wurde. Er erinnerte an die Ideale der Gründerväter der EU und forderte die Gemeinschaft dazu auf, ihre Kreativität und Seele wiederzugewinnen statt sich vor anderen zu verschließen.
"Beispiellose" Herausforderung
Eine ähnliche Mahnung hatte Papst Franziskus nun für die 27 EU-Staats- und Regierungschefs parat. Denn eine Audienz bei ihm bildete am Freitag den Auftakt zu den Feierlichkeiten anlässlich des 60. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge. Für den Samstag war ein Jubiläumsgipfel im Konservatorenpalast auf dem Kapitolsplatz der italienischen Hauptstadt angesetzt, dort, wo 1957 der Aufbau der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft fixiert wurde.
Ein Bekenntnis zu diesem Projekt sollte denn auch das Treffen der Spitzenpolitiker darstellen. In der Schlusserklärung der Zusammenkunft ist von einem "mutigen Unterfangen" und von "Stolz" auf das Erreichte die Rede. Es werden aber auch ein paar Bereiche aufgezeigt, in denen die EU mehr leisten sollte: bei der inneren und äußeren Sicherheit, bei der Vollendung der Wirtschaftsunion, bei der Stärkung sozialer Gerechtigkeit. Allerdings wird nicht verschwiegen, dass die Union gleichzeitig vor "beispiellosen" Herausforderungen steht. Dazu gehörten regionale Konflikte, Terrorismus, wachsender Migrationsdruck, Protektionismus, soziale und wirtschaftliche Ungleichheit.
Es ist mittlerweile eine Anhäufung von - inneren sowie von außen bestimmten - Problemen, mit denen die Gemeinschaft ringt. Optimisten sehen darin auch Chancen auf ein erneutes Zusammenrücken der Mitglieder. In der Gipfelerklärung wird Einigkeit als "Notwendigkeit" bezeichnet.
Krise als Chance oder Gefahr?
Die Annahme, dass die EU noch aus jeder Krise gestärkt herausgekommen ist, birgt aber auch Risiken. Eines davon ist, dass die nächste Krise die eine zu viel sein könnte. Das müsse die Gemeinschaft nicht unbedingt von innen sprengen, schreiben Eckhard Lübkemeier und Nicolai von Ondarza in einem aktuellen Diskussionspapier der in Berlin ansässigen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): Was drohe, sei "weniger eine "Knall auf Fall"-Implosion der EU als vielmehr eine anhaltende Erosion von gegenseitigem Vertrauen und Solidarität".
Denn ein "integrationsfreundliches Umfeld" - zunächst - im Westen Europas wie vor 60 Jahren, unter dem Eindruck von zwei Weltkriegen und befördert sowohl durch die Ost-West-Konfrontation als auch das politische und militärische Engagement der USA, bestehe nicht mehr. Stattdessen gewinnen in einigen Mitgliedstaaten EU-skeptische Bewegungen an Kraft, bereitet sich Großbritannien auf seinen EU-Austritt vor, und in Washington sitzt ein US-Präsident, dem die Einheit der Europäer kein Anliegen ist. "Kurzum", schreiben die SWP-Wissenschafter: "Die EU kann zerfallen, wenn sie als selbstverständlich gilt, und sie wird zerfallen, wenn sie als bloße Antwort auf die Vergangenheit erscheint und nicht als kollektives Projekt zur Stärkung der gemeinsamen Souveränität im 21. Jahrhundert."
Unterschiedliche Ziele
Allerdings ist derzeit gerade dieses Schlagwort unterschiedlichen Interpretationen ausgesetzt. In einer Rede im Senat in Rom erinnerte EU-Ratspräsident Donald Tusk in der Vorwoche an die Versuche, Freiheit zu definieren. Womit sich schon in der Antike die Griechen und Römer beschäftigt haben, hätten die Gründerväter der EU vor sechs Jahrzehnten für sich festgelegt als "die Freiheit, gemeinsam zu handeln". Dann fügte Tusk hinzu: "Souveränität bedeutete, einen Platz am Tisch zu haben."
Einige seiner Landsleute, sind da unterschiedlicher Meinung. So fasst die polnische Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) unter Jaroslaw Kaczynski Souveränität anders auf. Das Kabinett in Warschau plädiert für eine Stärkung der nationalen Kompetenzen gegenüber dem Gemeinschaftswesen. Weit schärfer spricht sich der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban dafür aus. Südliche Mitgliedstaaten wiederum, wie Griechenland und Portugal, kritisieren den Sparkurs, auf den vor allem die Nordeuropäer pochen. Manche Politiker wollen die wirtschaftliche, andere - wie zuletzt der österreichische Bundeskanzler Christian Kern - die soziale Dimension gestärkt sehen.
Bei all den Auffassungsdifferenzen bleibt also weiterhin offen, welche Richtung die Europäische Union einschlagen wird. Dass es dabei verschiedene Geschwindigkeiten geben wird, wie mehrmals von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel suggeriert, ist nicht ausgeschlossen. Wer aber vorangeht, solle die Tür "für jene, die später nachkommen wollen", offen halten, heißt es in der Gipfelerklärung.