Sarajewo - "In den vergangenen drei Jahren hat es eine stille Revolution in Bosnien-Herzegowina gegeben, in einem Land, das vorher kein Staat war oder den zumindest die wenigsten wollten." Diese "ganz deutliche Bewegung" in Richtung "Eigenstaatlichkeit" betrachtet Wolfgang Petritsch als drastischste und positivste Veränderung während seiner dreijährigen Amtszeit als Hoher Repräsentant für Bosnien-Herzegowina. Petritsch übernimmt im Juni den Posten des | österreichischen Botschafters bei der UNO in Genf. In Bosnien-Herzegowina folgt ihm der frühere Chef der britischen Liberaldemokraten Paddy Ashdown nach.
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Bosnien-Herzegowina setze sich heute nicht mehr nur aus den im Friedensvertrag von Dayton (1995) festgelegten zwei Gebietseinheiten (bosniakisch-kroatische Föderation und Republika Srpska) zusammen, betonte Petritsch. Dieser positive Zustand sei sowohl durch Reformen im Inneren wie auch durch die Veränderung des regionalen Umfeldes erreicht worden. Wesentlich sei die Abwahl der nationalistischen Politiker in Sarajewo und Banja Luka gewesen.
Nun herrsche auf dem gesamten Balkan die historische Tatsache vor, dass in allen Ländern Südosteuropas demokratische Regierungen an der Macht sind. Vor allem für Bosnien-Herzegowina sei dies von ganz großer Bedeutung, weil es von vielen oft als "schwacher Staat" charakterisiert worden sei. Auch wenn Bosnien-Herzegowina noch immer kein einheitlicher Staat sei, war die Staatswerdung des Landes ganz wichtig für das Land. Parallel dazu sei auch die Stärkung öffentlicher staatlicher Institutionen als zweites prioritäres Ziel realisiert worden.
Mit der im Frühjahr diesen Jahres verabschiedeten Verfassungsreform sei die Grundlage für eine ruhigere Entwicklung gelegt worden. Als enormen Erfolg bezeichnete Petritsch die Flüchtlingsrückkehr. Bis 1999 seien nur wenige Flüchtlinge in ihre alten Heime zurückkehrt. "In den vergangenen drei Jahren ist die Zahl stetig und konstant gestiegen und insgesamt sind seit 1995 etwa 300.000 geflüchtete und vertriebene Menschen in ihre alten Heime zurückgekehrt."
Angesichts dieser Entwicklungen sei er sehr zuversichtlich, was die Zukunft Bosnien-Herzegowinas betreffe. Dennoch müsse man immer die gesamte Region im Blickfeld behalten. "Es ist nicht nur wichtig, dass in allen Ländern die demokratischen Entwicklungen fortgesetzt werden, sondern dass es auch in Mazedonien und vor allem in der südserbischen Provinz Kosovo zu einer Lösung der Probleme kommt."
Gar nicht zufrieden zeigte sich Petritsch mit den wirtschaftlichen Entwicklungen in Bosnien-Herzegowina. Noch immer herrsche eine Wirtschaftskrise profunden Ausmaßes. Das größte Opfer des Zerfalls Jugoslawiens habe die Doppeltransition von Krieg in den Frieden und von einem kommunistischen System in die Marktwirtschaft noch nicht geschafft. "Nach wie vor gibt es große Probleme in der Reorganisierung der Wirtschaft", bedauerte der Balkan-Experte.
Die Menschen und die Region in Südosteuropa habe er natürlich schon gut gekannt, bevor er Hoher Repräsentant wurde. Durch seine Tätigkeit in Sarajewo sei er den Menschen aber noch viel näher gekommen. "Ich sehe jetzt viel stärker eine noch engere Verbindung mit dem Rest des Kontinents und insbesondere mit Österreich", schilderte Petritsch. "Die Menschen in Bosnien-Herzegowina denken und fühlen zutiefst in einem europäischen Kontext", und hier gebe es keine Unterschiede zwischen Bosniaken, Kroaten und Serben.
Der Nationalismus sei aber noch zweifellos vorhanden. Oft bleibe er unreflektiert, weil die Demokratisierung noch in den Kinderschuhen steckt. Genauso würden aber einzelne Politiker den Nationalismus auch heute noch bewusst ge- und missbrauchen, führte Petritsch aus. Ebenso sei der Hass zwischen den Volksgruppen noch vorhanden. Dennoch überwiege bei vielen immer mehr die Ansicht, dass Hass zu keiner Lösung führen könne, sondern Probleme nur verstärke. Hier biete vor allem die Öffnung nach Europa andere Perspektiven.
Die Menschen müssten lernen, die Idee der europäischen Integration richtig zu verstehen. Danach werden sich die innere Verkrampfung und auch die tieferen Ursachen des Hasses etwas lösen. "Ganz klar muss den Menschen eine europäische Perspektive geboten werden, um auch aus der Alternativlosigkeit des Nationalismus herauszufinden", betonte Petritsch und fügte hinzu: "Nach dem Scheitern der jugoslawischen Idee bleibt nur Europa".