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In Fortunas Begleitung

Von Peter Jungwirth

Reflexionen

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Eine altbekannte Praktik der Weissagung ist das Legen und Interpretieren von Tarot-Karten. Abb.: Archiv

"Wir alle brauchen Glück, soviel ist sicher, aber noch wichtiger ist das dazu unentbehrliche Maß an Pech." Mit dieser programmatischen Provokation beginnt das Buch "Fortuna auf Triumphzug". Sie macht neugierig auf die 20 kurzen Essays zum umfassenden Thema Zufall, die der 1953 geborene Schweizer Journalist und Philosoph Georg Brunold in seinem jüngsten Werk versammelt hat.

Denn wie soll man sich das konkret vorstellen, dieses "unentbehrliche Maß an Pech"? Zum Beispiel als entscheidenden Zufall bei der Partnerwahl: Hätte jene Frau, die er ein Jahrzehnt lang mit "eiserner Beharrlichkeit und ebensolcher Vergeblichkeit umwarb", ihm keinen Korb gegeben, dann hätte er seine "wunderbare Ehefrau niemals kennengelernt" - und, setzt Brunold hinzu, morgens am Bett würde er nicht Besuch von seinem vierjährigen Sohn bekommen.

Jahrelang geduldig aufs Lebensglück warten zu können, setzt aber einen festen Charakter voraus. Kein Wunder also, wenn zu allen Zeiten versucht wurde, zukünftiges Schicksal zu erforschen und - so weit wie nur irgend möglich - günstiger zu gestalten. Brunold findet daher, indem er seinem großen Thema von der Antike bis heute durch die relevanten Milieus folgt - Wirtschaft und Wissenschaft, Kunst und Theologie, nicht zu vergessen auch das profane Glücksspiel in diversen Varianten -, ein reiches Betätigungsfeld.

Quelle für Neues

Von Aristoteles, der sich als Erster systematisch mit dem Zufall befasste, bis zum Quantenphysiker Zeilinger ist es ein langer Weg: "Der Zufall stellt also ein konstitutives Element unserer Welt dar. Es geht nicht nur darum, ihn nicht aus der Welt zu verbannen, sondern ihn als Quelle für Neues schlechthin zu sehen" , schrieb Anton Zeilinger 2007. Diese Bejahung des Zufalls in den Wissenschaften ist relativ neu. "Die philosophische Betrachtung hat keine andere Absicht, als das Zufällige zu entfernen" , so beschrieb Hegel das Paradigma einer Zeit, als die wissenschaftliche Avantgarde noch glaubte, dass die vollständige Eliminierung des Zufalls zumindest prinzipiell möglich sei.

Der auf Descartes gründende Determinismus fand damals seine wohl berühmteste Fassung im Dämon, den Pierre-Simon Laplace 1814 der von Napoleon beherrschten Welt vorstellte: "Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Universums als die Wirkung eines früheren Zustandes und als Ursache des nachfolgenden Zustandes betrachten. Eine Intelligenz, die zu einem gegebenen Zeitpunkt alle in der Natur wirkenden Kräfte sowie die gegenseitige Lage aller Objekte, aus denen die Welt besteht, kennte und überdies umfassend genug wäre, diese Kenntnisse der Analyse zu unterwerfen, würde in einer und derselben Formel die Bewegungen der größten Himmelskörper des Weltalls und die des leichtesten Atoms einbegreifen; nichts wäre für sie ungewiss, und Zukunft wie Vergangenheit lägen klar vor ihren Augen."

Ein Computer, mit dessen Hilfe man tatsächlich jede Kausalbeziehung im Universum berechnen könnte, hätte allerdings ein unhandliches Format - er wäre ungefähr so groß wie das Universum selbst. Dass die Wissenschaften nicht nur aus solch unglücklichen praktischen Gründen, sondern auch aus theoretischen weiterhin mit der Existenz des Zufalls leben müssen, erwiesen im 20. Jahrhundert die Erkenntnisse der Quantenphysik.

Trotzdem gibt es auch am Beginn des 21. Jahrhunderts noch Wissenschafter, die sich am mechanistischen Paradigma orientieren: Neurobiologen etwa, die aufgrund der Ergebnisse ihrer Laborexperimente den freien menschlichen Willen für reine Illusion halten. Ein Anachronismus, befindet Georg Brunold. Und verweist auf die engen Grenzen von Logik und Vernunft. Diese erlauben zwar, Raketen zielsicher zum Mond zu schießen, und - zumindest in Nichtkrisenzeiten - Banken, Versicherungen und Staaten verlässlich vor dem Bankrott zu bewahren. Aber schon der Lauf einer Roulettekugel lässt sich nicht genau genug berechnen, um dem Spieler einen Gewinn zu garantieren. Und auch exakte Vorhersagen für Börsenkurse, Krankheitsverläufe oder Erdbeben liegen jenseits prognostischer Möglichkeiten.

Im Übrigen ist es auch mit der Verbreitung des gesicherten Wissens über den Zufall schlecht bestellt. Und das nicht nur bei Laien, die meist zu wenig von den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit wissen, um ihre lächerlich kleine Chance beim Glücksspiel zu kennen. Sondern auch bei Ärzten, die deshalb Patienten falsch befunden. Oder Kriminalisten, die - wie das nach dem Mord an einer Polizistin in Heilbronn geschah - jahrelang ein Phantom jagten, bis sich die bizarre DNA-Spur, der alle nachliefen, als falsch erwies. Zur Ehrenrettung aller grob Irrenden, sowie zur Mäßigung der Kritiker und Spötter zitiert Brunold einen berühmten Kundigen des kriminalistischen Faches: "Die Wirklichkeit, darauf hat ein ganz großer Künstler wie Hitchcock wiederholt hingewiesen, lässt die Fiktion hinter sich."

Kreativität fordert die Welt allerdings nicht nur Kriminalisten, sondern ausnahmslos jedem ab, und weil der Zufall ein Schlüssel zur Hervorbringung neuer Ideen ist, widmet sich Brunold auch diesem Thema in bewährter Weise: So werden etwa originelle Autoren wie Arthur Koestler und Mihály Csíkszentmihályi ausführlich behandelt. Und Brunold zieht ein überzeugendes Fazit: "Wir bewegen uns in beständiger Begleitung und Abhängigkeit von unserer Glücks- und Erfolgsgöttin Fortuna. Wir haben allen Grund, ihr den Hof zu machen."

Kritische Zukunftssicht

Mit dem Zufall hat sich auch der 1938 in Wien geborene Historiker und Journalist Wolfgang Hingst intensiv beschäftigt. In seinem Buch "Botschaften aus der Zukunft" legt er eine kritische Bestandsaufnahme des fast unüberschaubar breiten Spektrums der Praktiken von Weissagungen vor.

Die Motivation für dieses an Sisyphus erinnernde Unternehmen entstammt seinem Zweifel an der Zukunftsfähigkeit des Gegenwartsmenschen. Hingst, der sein eigenes Geschick in Sachen Zukunftsschau 1987 mit dem Sachbuch "Zeitbombe Radioaktivität" erprobt hat, zitiert im Vorwort Sir Martin Rees, Mitglied der National Academy of Sciences der USA und der Russischen Akademie der Wissenschaften, welcher der Menschheit bis zum Ende des Jahrhunderts nur eine Überlebenschance von 50:50 gibt.

Um die drohende Katastrophe abzuwenden, müsse daher, meint Hingst, eine Gesellschaft "aufgebaut werden, die ihre Probleme sanfter, sparsamer, menschlicher, ökologischer, politischer und dynamischer löst als bisher". Und, so Hingst weiter, genau dafür "kann das Verständnis der überlieferten Jahrtausende alten Techniken der Zukunftsschau behilflich sein."

Ob diese hohe Erwartung gerechtfertigt ist, bleibt dahingestellt. Fest steht aber, dass Hingst das Kunststück gelungen ist, wesentlich mehr zu leisten, als sein eigener Verlag im Untertitel - "Kulturgeschichte der Weissagungen von der Antike bis zur Gegenwart" - ankündigt. Denn er verfolgt die Spur des Wissens über Weissagung über einen viel größeren Zeitraum, nämlich bis in die Steinzeit zurück. Und diese ertragreiche Exkursion bis an den äußersten Rand des Beobachtbaren ist programmatisch.

Aus der Fülle des Materials entsteht ein gigantisches Panorama, in dem seit alters her bekannte Praktiken wie Astrologie, Eingeweideschau, Knochenorakel, I-Ging, Schamanismus, Tarot, Traumdeutung, Vogelschau und Würfel naturgemäß ebenso ihren Platz finden wie mit dem Phänomen der Weissagung korrespondierende Konzepte wie Serialität und Synchronizität, die von Wissenschaftern wie Paul Kammerer, C.G. Jung und Wolfgang Pauli erst im letzten Jahrhundert entwickelt wurden.

Informationen über Entstehung, Entwicklung, geographische und geschichtliche Verbreitung der einzelnen Praktiken runden das Bild meist gut ab. So Material vorhanden ist, gibt es auch wertvolle Hinweise über die Zuverlässigkeit von historisch belegbaren Vorhersagen. Die oft zitierten Prophezeiungen von Nostradamus beispielsweise halten aufgrund ihrer unkonkreten Formulierung dem forschenden Blick nicht stand. An der Vision von Emanuel Swedenborg, der von Göteborg aus einen gleichzeitig in Stockholm ausbrechenden Großbrand "sah", hat sich aufgrund ihrer Konkretheit hingegen schon der Aufklärer Kant seine kritischen Zähne ausgebissen.

So wie die wissenschaftlichen Disziplinen ist auch die Liste der divinatorischen Praktiken nahezu unerschöpflich. Und Hingst führt einem das mit der unersättlichen Neugier eines Universalgelehrten auch deutlich vor Augen. Die drohende Erschöpfung des Lesers unterbleibt aber dank zugespitzter Dramaturgie und attraktivem Personal: An szenischem Material mit berühmten historischen Figuren, mythischen Helden, bekannten Göttern und legendären Ungeheuern herrscht hier kein Mangel. Wobei Geschichte und Mythos sich zuweilen beeindruckend überschneiden, wie etwa bei Cäsar, dessen zeitlich korrekt prophezeiter Tod auch in Ovids "Metamorphosen" verzeichnet ist.

Beeindruckend ist auch, wie konsequent Hingst scheinbar unversöhnliche Gegensätze auflöst, wie etwa beim historischen Antagonismus zwischen Christentum und Wahrsagerei: Augustinus lehnte diese zwar ab, ließ sich aber selbst von einem zufällig aufgeschlagenen Bibelvers zum Glauben bekehren.

Platz für viele Götter

Am Ende, nach einer Tour de Force durch die Menschheitsgeschichte, die in dieser Länge und Dichte wenige Beispiele hat, fasst Hingst den Stand der relevanten modernen Wissenschaften pointiert und kenntnisreich zusammen, sodass die nur scheinbar riesige Kluft zwischen heutiger Wissenschaft und ältesten Mythen derart eingedampft wird, dass sie bequem im Schierlingsbecher von Sokrates Platz findet.

In jenen riesigen, noch unerforschlichen Bereichen des Universums, die man heute nur mit Begriffen wie "Dunkle Energie" und "Dunkle Materie" beschreiben kann, wäre Platz für mehr Götter, als sich Menschen seit dem Urknall oder der Schöpfung erdacht haben . . .

Peter Jungwirth, geboren 1962, lebt in Wien, ist als freier Journalist im Print- und Hörfunkbereich tätig und beschäftigt sich selbst seit vielen Jahren mit dem Thema "Zufall".

Georg Brunold: Fortuna auf Triumphzug. Von der Notwendigkeit des Zufalls. Galiani Verlag, Berlin 2011, 282 Seiten.Wolfgang Hingst: Botschaften aus der Zukunft. Kulturgeschichte der Weissagungen von der Antike bis zur Gegenwart. Verlag Via Nova, Petersberg 2011, 399 Seiten.