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In freier Natur

Von Christian Hoffmann

Wissen

Bei Abenteuern in freier Natur, beim Bergwandern, beim Kanufahren oder beim Segeln, setzt die Erlebnispädagogik an. Erfahrungen im Freien sollen für die Entwicklung der Persönlichkeit genutzt werden. Das Konzept ist knapp hundert Jahre alt.


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Die Nacht im Hochgebirge ist befremdlich: Das Rascheln im Unterholz, der Luftzug im Gesicht, den auch der warme Schlafsack nicht abhält, der gewaltige Sternenhimmel. Annemarie kann nicht schlafen, sie verbringt zum ersten Mal eine ganze Nacht im Freien. Das Ausgesetzt-Sein in der Natur macht ihr zu schaffen und begeistert sie zugleich. Lange Zeit liegt sie wach. Doch sie weiß, dass sie den Weg zur Hütte zurück finden würde, sollte die Einsamkeit sie überwältigen. Also bleibt sie und erlebt eine einzigartige Nacht.

Annemarie nimmt an einem Lehrgang teil, bei dem Erlebnispädagogen ausgebildet werden. Sie soll später imstande sein, Jugendliche bei Erkundungen in freier Natur zu begleiten. Die Nacht, die sie alleine verbringt, ist Teil einer Ausbildung, die sich über ein ganzes Jahr erstreckt. Leute aus verschiedensten Berufen sind mit von der Partie, Lehrer, Sozialarbeiterinnen, Unternehmensberater. Die Nacht im Freien, das „Solo”, ist einer der Höhepunkte einer Woche in den Bergen.

„Viele Kulturen verwenden solche Erfahrungen zur Entwicklung der Persönlichkeit, die Aborigines zum Beispiel oder die meisten indigenen Völker”, sagt Michael Kienböck. Er leitet die Gruppe im Rahmen des Lehrgangs „Outdoor-Kompetenz in Veränderungsprozessen”, hat Sportwissenschaften studiert und später auch noch eine psychotherapeutische Ausbildung absolviert. Mit dem Konzept der Erlebnispädagodik kam er in einem Seminar an der Universität Wien bei Günter Amesberger in Berührung, dem Pionier des modernen Outdoortrainings in Österreich, der sich in den neunziger Jahren intensiv mit aktuellen Anwendungen der Ideen von Kurt Hahn (1886 - 1974) aus der Zwischenkriegszeit beschäftigt hat.

Leidenschaft des Rettens

Kurt Hahn und das Internat von Salem beim Bodensee gelten als der Ausgangspunkt der Erlebnispädagogik in den dreißiger Jahren. Hahn entwickelte seine Gedanken in der Periode nach dem Ersten Weltkrieg, einer Zeit tiefer gesellschaftlicher Unzufriedenheit. Seine Kritik am Lebensstil der modernen Gesellschaft konzentrierte sich auf vier Punkte: Verfall der körperlichen Tauglichkeit, Mangel an Initiative und Spontaneität, Mangel an Sorgsamkeit und Mangel an menschlicher Anteilnahme. Nach seiner Vorstellung sollten die Zöglinge von Schloss Salem diese Schwächen ihrer Zeit gezielt in mehrtägigen Expeditionen zur See und zu Lande überwinden lernen.

Nachdem er 1933 von den Nazis verhaftet wurde und erst nach Intervention der britischen Regierung freikam, emigrierte Hahn nach Schottland, wo er die British Salem School gründete. Später entstand auch das Atlantic College in Wales, heute noch eine Schule mit außergewöhnlichem Ruf, deren Schülerinnen und Schüler beispielsweise aktiv in der Seenotrettung mitarbeiten, entsprechend einem elementaren Gedanken Hahns, demzufolge „die Leidenschaft des Rettens eine Dynamik der menschlichen Seele entwickelt, die noch gewaltiger ist als die Dynamik des Krieges”. Derzeit knüpfen dreizehn internationale Schulen aus der Gruppe der „United World Colleges” an den Gedanken von Kurt Hahn an.

In die Tiefe

Margit Bachschwöll war Volksschullehrerin, hat an der Universität Wien Sonder- und Heilpädagogik studiert, arbeitet als Coach und bildet ebenfalls künftige Erlebnispädagogen aus. „Heute geht es nicht mehr darum, die verweichlichte Jugend zu retten”, sagt sie, auch wenn sich dieser Gedanke in manchen Bereichen der Outdoor-Szene hartnäckig halte. Ihr geht es um das Miteinander, auch von Ausbildnern und Lernenden. „Es gibt eben einen großen Unterschied”, sagt sie, „zwischen Wissen, das man vorgetragen bekommt, und dem, was man erlebt. Nur Erfahrungen erzeugen Emotionen.” Den entscheidenden Unterschied zwischen schönen Wanderungen oder beeindruckenden Kanutouren und einem erlebnispädagogischen Projekt sieht sie in der Reflexion, in der Beantwortung der Frage: Wie geht es uns dabei? Welche Gefühle entstehen? Fragen, deren Beantwortung bei der Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit helfen soll.

In einem ihrer Kurse machte zum Beispiel ein Mann, der mit den Bergen vertraut war und bereits Kletterrouten ausgebaut hatte, eine überraschende Erfahrung. Das geschah am Pampers Pole, einem Mast im Hochseilgarten, von dem es in die Tiefe zu springen galt, abgesichert natürlich. Da er sich zum ersten Mal darüber Rechenschaft ablegte, wie er in den luftigen Höhen wirklich empfand, war es ihm mit einem Mal unmöglich, zu springen. Er lernte zum ersten Mal Ängste kennen, die er bis dahin nicht wahrgenommen hatte. Sie aufzuarbeiten und mit ihnen zurechtzukommen wurde ein wertvoller Teil seiner Ausbildung.

Wobei man in der Outdoor-Szene großen Wert darauf legt, niemanden in Gefahr zu bringen, wie Michael Kienböck betont: „Wir inszenieren auch nichts, was zu große Angst macht oder Panik auslöst.” Die eigenen Gefühle, und damit auch die eigenen Ängste, kennenzulernen und mit ihnen umgehen zu können, gehört zur Ausbildung im „Outdoorlehrgang”, und das kann auch heißen, zu einer Übung Nein zu sagen. Es geht zu guter Letzt schließlich um die Entwicklung der Persönlichkeit.

Außerdem sollen die Absolventinnen und Absolventen danach selbst fähig sein, Gruppen in freier Natur sicher zu leiten. Deswegen geht es in den Kursen auch um die praktischen Fähigkeiten des Planens und Durchführens von Touren, um den Umgang mit Karte, Kompass und Höhenprofilen. Oder in den Übungen, die Margit Bachschwöll in den Mosoni-Auen in Ungarn leitet, darum, wie man ein Floß baut, welche Sicherheitsfragen es dabei zu berücksichtigen gilt, was zu einer Kanu-Wanderung oder zur Selbstversorgung in einem Camp gehört.

Nach gut einem Jahrzehnt als Erlebnispädagogin und bei der Ausbildung künftiger Erlebnispädagogen ist Margit Bachschwöll, die aus dem Waldviertel stammt, von einem fest überzeugt: „Es gibt eine tiefe Sehnsucht vieler Menschen danach, draußen zu sein und etwas mit den eigenen Händen zu tun.” Bei fast allen gebe es Teile der Persönlichkeit, für die im Alltag kein Platz bleibt. Und für die meisten ist es bereichernd, mit diesen Anteilen in Kontakt zu kommen. Dabei denkt man unwillkürlich an Henry David Thoreau (1817 - 1862), den amerikanischen Schriftsteller, auf den sich viele Erlebnispädagogen berufen. In „Walden oder Leben in den Wäldern” notiert er: „Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte.”

INTERNET:

www.erlebnispaedagogik.at: Ein allgemeiner Überblick über Lehrgänge und Seminare, www.ioa.at:Informationen über den Universitätslehrgang „Integrative Outdoor Aktivitäten”, www.outdoorlehrgang.at: Homepage des Lehrgangs der Gruppe Freiraum, www.margitbachschwoell.at: Seite mit den Angeboten von Margit Bachschwöll, www.uwc.ac.at: Die United World CollegesBUCHTIPP:

Werner Michl: Erlebnispädagogik. UTB, Ernst Reinhardt Verlag, 2009, 94 Seiten

GERHARD FRANK:

Mit Erlebnissen aller Art beschäftigt sich Gerhard Frank. Der promovierte Zoologe, der sich seit 25 Jahren mit dem Management von Erlebnissen befasst, versucht eine Theorie der Erlebniswissenschaften zu begründen. Er analysiert die naturwissenschaftlichen Grundlagen des Erlebens und entwickelt daraus Grundlagen des Erlebnisdesigns. Gerhard Frank: Erlebniswissenschaft. Über die Kunst, Menschen zu begeistern. Lit-Verlag, Wien 2011, 365 Seiten.