Der US-Politologe Francis Fukuyama über verletzte Würde, Europa und das größte Problem der Parteien.
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Wien. Francis Fukuyama versteht es, einen Nerv der Zeit zu treffen. Mit seinem 1989 veröffentlichten Aufsatz "The End of History?" wurde der US-Politologe mit einem Schlag zu einem Weltendeuter von Rang. Gestützt auf Hegels auf ein universales Ziel hin ausgerichtete Geschichtsphilosophie, deutete er die Idee der liberalen Demokratie als ideengeschichtlichen Fluchtpunkt. Seitdem hat sich die Welt zwar weitergedreht, und Kritiker werden nicht müde zu argumentieren, dass dies dank Chinas autoritärem Kapitalismus und dem islamistischen Dschihad auch für die Ideengeschichte gelte. Fukuyama blieb jedoch im Scheinwerferlicht.
Mit seinem jüngsten Buch "Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet" hat er erneut eine bemerkenswerte Diagnose zur Gegenwart vorgelegt. Auf Einladung der Erste Stiftung hält er am 7. März einen Vortrag (Livestream ab 19.30 Uhr unter: https://erstestiftung.streaming.at/20190307). Die "Wiener Zeitung" traf Fukuyama zum Interview.
"Wiener Zeitung": Die Menschen haben immer versucht, die Geschichte als Ganzes zu lesen und mit Sinn zu versehen. Auf das Streben der Nationen folgten die Dialektik des Marxismus und die Dynamik des Kapitalismus, beide mal mit mehr mal mit weniger Demokratie und Liberalismus angereichert. Nun sehen Sie in der Identitätspolitik eine starke Kraft für Veränderung. Welche Aspekte der internationalen Politik können Sie damit erklären und welche nicht?
Francis Fukuyama: Ich glaube nicht, dass das Konzept von Identität auf der Basis einer universellen menschlichen Psychologie beruht. Deshalb verwende ich auch das griechische Wort "Thymos", um die Sehnsucht nach Anerkennung auszudrücken. Alle Aspekte der Weltpolitik lassen sich damit sicher nicht erklären, das gilt etwa für die klassische Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, wo noch immer das Links-Rechts-Schema greift; das Problem ist, dass es trotzdem leicht fällt, diese Fragen mit Identitäten zu vermengen. Wer seinen Job verliert, verliert nicht nur Einkommen, sondern auch sozialen Status. Ohne eine Identitätspolitik, die alle US-Probleme auf Einwanderung und unfaire Handelspraktiken reduzierte, hätte Donald Trump nicht gewonnen.
Wir erleben diese Strategie auch in Europa, sind also nur westliche Demokratien betroffen?
Nein, es gibt eine buddhistische Identitätsbewegung in Myanmar und Sri Lanka, eine hinduistische unter Narendra Modi. Wir erleben diese Entwicklung in vielen Regionen der Welt. Diese Politik zielt nie auf die wirklich Armen, sondern hat stets die bedrohte Mittelklasse im Fokus.
Das Streben nach Anerkennung von Minderheiten geht einher mit dem Abschied von großen Erzählungen. An ihre Stelle treten viele kleine, einander widersprechende Narrative immer kleiner werdender Gruppen. Wenn der subjektive Blick auf Vergangenheit und Gegenwart den Ton angibt, was ist dann mit einer objektiven Wahrheit, mit den Fakten?
Es gibt an den Rändern die Verschwörungstheoretiker, die die Wissenschaft und Medien als "Fake News" ablehnen. Das ist eine Konsequenz des Internets, das jede Form der Kontrolle von Veröffentlichungen abgeschafft hat. Jeder kann heute alles online stellen. Dass die Autorität etablierter Institutionen wie Kirchen, Gewerkschaften, Parteien, Justiz erodiert, ist aber nicht neu. Grundsätzlich verläuft die öffentliche Debatte zwischen zwei Polen: einem eher urbanen, offenen, liberalen und einem eher ländlichen, geschlossenen, traditionellen.
Wird sich die Stadt-Land-Polarisierung auf absehbare Zeit wieder ändern?
Ich denke schon. Die demografischen Trends gehen in Richtung Bildung, die Menschen wandern in die Städte, von daher fährt der Zug der Zeit in Richtung einer liberaleren Haltung. Genau das führt in den betroffenen Regionen zu Gegenbewegungen: Der Einfluss von Minderheiten wird stärker, und das soll verhindert werden. Man kann das in den ländlichen Regionen der USA genauso wie in Osteuropa beobachten.
Wir erleben nicht nur einen Wettbewerb der Identitäten um Anerkennung, dahinter steht auch ein Wettbewerb einander entgegengesetzter Moralvorstellungen. Doch im Ringen zwischen Werten gibt es keine Kompromisse, nur Sieger und Verlierer. Wie kommen wir aus diesem Teufelskreislauf wieder heraus?
Meine allgemeine Empfehlung lautet: Wir müssen uns wieder in Richtung von größeren und umfassenderen Identitäten bewegen. Identität ist ein flexibles Konzept, es lässt sich sehr eng und ausschließend definieren, etwa als schwule farbige Frau, oder eben sehr breit. Hier sehe ich Nationen nach wie vor als wichtige Institutionen der Integration, weil auf ihrer Grundlage haben wir unsere Demokratie aufgebaut. Damit diese funktioniert, müssen sich alle Mitglieder als Einheit fühlen, die zusammengehört. Dass sich die Menschen daneben noch anderen Gruppen zugehörig fühlen, ist kein Widerspruch.
Wir können diese moralische Auseinandersetzung also einfach dadurch lösen, dass wir über etwas ganz anderes reden?
Ja, das ist es, worum es bei politischer Führung in erster Linie geht. Die Entstehung etlicher Staaten hatte damit zu tun, dass Politiker, Dichter und Künstler darüber geredet und geschrieben haben. Sicher auch mit Krieg und Gewalt, aber eben nicht nur.
Aber das hat oft lange gedauert, Jahrzehnte, manchmal Jahrhunderte. Jetzt dagegen dominiert ein Gefühl von Dringlichkeit, dass uns in vielen wichtigen und umstrittenen Fragen die Zeit davonlaufe. Alle, die Medien ganz besonders, fordern schnelles Handeln. Somit fehlt uns schlicht die Zeit, die es benötigt, neue, umfassendere Identitäten zu schaffen.
Mag sein, ich sehe nur keinen anderen Ausweg. Zumal wir noch nicht am Ende dieser Entwicklung stehen: Der Trend zu immer engeren, ausschließenderen Identitäten hält weiter an - in Osteuropa, in Katalonien und Schottland. Die Europäische Union als Versuch einer Gegenbewegung für die Schaffung einer übergeordneten Loyalität der Menschen ist hier bis dato gescheitert.
Ist dieses Scheitern der EU für Sie endgültig?
Nein, keineswegs. Die Dinge sind gerade sehr in Bewegung, viele populistische Bewegungen auf nationaler Ebene haben Rückenwind. Eine Gegenoffensive der pro-europäischen Kräfte ist nicht ausgeschlossen, vor allem, falls Großbritannien in einen ungeordneten Brexit hineinschlittert.
Manche EU-Aktivisten sehen im Fortbestand der Nationalstaaten das größte Hindernis für einen Erfolg des europäischen Integrationsprojekts. Die Gegenseite verweist darauf, dass nicht nur die demokratischen Institutionen, sondern auch jene von Rechts- und Wohlfahrtsstaat auf nationalen Säulen ruhen. Was meinen Sie?
Ich halte die Überzeugung, man könne den Nationalstaat einfach abschaffen und an dessen Stelle die EU setzen, für völlig unrealistisch. Es gibt schlicht keinen ausreichenden gesellschaftlichen Konsens innerhalb der Union für ein solches Unterfangen, nicht bei Fragen der Staatsbürgerschaft, der Erziehung oder Migration. Und die Eurokrise hat gezeigt, dass die reichen Staaten der EU zwar bereit sind, einen Sozialstaat für ihre eigenen Bürger zu finanzieren, nicht aber für Griechen oder Italiener in deren Ländern.
Ist das ein demokratiepolitisch vernünftiger Zugang?
Griechenland ist sicherlich zu einem guten Teil selbst verantwortlich für seine Probleme, als deutscher Finanzminister hätte ich jedoch wohl zu einem etwas großzügigeren Verhalten geneigt. Das ist ein kompliziertes Thema, aber um ein gemeinsames Europa zu bauen, müssen alle etwas opfern.
Mit Identität und verletzter Würde machen Rechte wie Linke Politik, aber fast nur die Rechte gewinnt damit derzeit Wahlen. Was sollte die Linke tun?
Mein Rat wäre, dass die Linke wieder zu einer offeneren wirtschaftlichen Umverteilungspolitik zurückkehrt, diese jedoch auf der Grundlage von Identitäten zu argumentieren sollte. Nur so wird sie verlorenes Terrain wieder zurückerobern, das gilt vor allem für die ländlichen Regionen. Voraussetzung für einen Erfolg ist jedoch, dass die Linke den Grundsatz akzeptiert, dass Staaten - das Asylrecht ausgenommen - das Recht haben zu bestimmen, wie viele und welche Migranten sie hereinlassen. Aus diversen Gründen ist das für viele schwer zu akzeptieren.
Wann wird also das Pendel wieder nach links ausschlagen?
Das weiß ich wirklich nicht. Ich sehe nicht viele Politiker auf der Linken, die diese Herausforderungen erfolgreich lösen könnten. Das hat vor allem damit zu tun, dass Parteien immer stärker von Aktivisten geprägt werden.
Francis Fukuyama, geboren 1952 in Chicago als Kind einer japanischen Einwandererfamilie, studierte Philosophie, Literatur und Politikwissenschaft unter anderem an der US-Universität Harvard. Seit 2010 lehrt und forscht Fukuyama an der Stanford Universität in Kalifornien.