Zum Hauptinhalt springen

In Geiselhaft der Politik

Von Martyna Czarnowska aus Skopje

Politik

Die Regierungs- und Verfassungskrise in Mazedonien hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft und Zivilgesellschaft des EU-Beitrittskandidaten.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 7 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Skopje. Fast jeden Tag kommen sie zusammen, seit gut einem Monat. Sie sammeln sich vor dem Regierungsgebäude in Skopje, marschieren vor das Parlament oder auch schon einmal vor das Informationszentrum der EU. Sie haben Fahnen mitgebracht oder - wenn nötig - Regenschirme, auf denen ebenfalls das Symbol der mazedonischen Sonne prangt. Rot-gelbe Kappen und Halstücher sind zu sehen. Jemand hat eine Trommel bei sich, andere halten Plastiktrompeten in der Hand. Der Singsang setzt ein: "Makedonija" ist immer wieder herauszuhören. Der Patriotismus muss zur Schau getragen und zum Ausdruck gebracht werden. Wegen ihrer Heimatliebe seien sie ja da, sagen sie.

Das Vaterland nämlich sei in Gefahr, ist bei diesen Demonstrationen überall zu hören. Der Staatspräsident behauptet dasselbe. Die Souveränität und Einheit Mazedoniens seien bedroht, meint Georgi Iwanow. Deswegen weigert er sich seit Wochen, den Sozialdemokraten im Parlament den Auftrag zur Bildung einer Regierung zu erteilen. Die zweitstärkste Partei, die bei der Wahl im Dezember deutlich zugelegt hatte, will eine Koalition mit albanischen Fraktionen schmieden. Zugeständnisse an die Volksgruppe, etwa zur Zweisprachigkeit in manchen Bereichen, wären Teil ihres Abkommens.

Das aber würde eben die Einheit des Landes gefährden, argumentiert Präsident Iwanow. Warum es Mazedonien in seinen Grundfesten erschüttern würde, wenn auf Geldscheinen der Schriftzug der Notenbank auf Mazedonisch und Albanisch angegeben wäre oder in manchen Gemeinden die Menschen auch auf Albanisch ihre Anliegen vortragen dürften, führt er nicht aus. Dabei haben ethnische Spannungen in dem Land nie in solchem Ausmaß zu Konflikten und Kriegen geführt wie in anderen ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken. Noch dazu war die Albaner-Partei DUI jahrelang in der Regierung vertreten, zuletzt gemeinsam mit der nationalkonservativen VMRO-DPMNE von Nikola Gruevski. Dieser hat nun allerdings keinen Koalitionspartner gefunden.

Marathondebatten lähmendie Arbeit des Parlaments

Dass nun dennoch Sorgen vor albanischen Forderungen im Inland sowie vor Einmischungen von außen, von den Nachbarn Albanien und Kosovo, geschürt werden, dürfte also eher innenpolitische Gründe haben. Staatspräsident Iwanow ist ein Gefolgsmann des langjährigen Premiers Gruevski, der nach Abhör- und Korruptionsaffären zurückgetreten war. Würden Gruevski und seine Parteikollegen ihre Immunität verlieren, könnten sie sich auf der Anklagebank wiederfinden.

Daher tragen sie selbst jetzt auch ihren Teil zur Blockade der Regierungsbildung bei. Zu dieser ist nämlich die Wahl eines Parlamentssprechers der erste Schritt. Um dies zu verhindern, greifen die Abgeordneten der VMRO-DPMNE zur Filibuster-Methode: Mit Marathondebatten lähmen sie die Arbeit der Volksvertretung. Die dritte Woche geht das schon so - Dauerreden im Parlament, Demonstrationen draußen. Gerüchte, dass der Protestwille der Bürger mit Geld von den Nationalkonservativen aufrechterhalten wird, machen die Runde.

Zumindest unter den Menschen, die vor einiger Zeit an ganz anderen Kundgebungen teilgenommen hatten. Vor knapp zwei Jahren trieb die Empörung über Abhörung im großen Stil - von Journalisten, Aktivisten bis hin zu Politikern aller Lager -, über Korruptionsvorwürfe sowie über Versuche der Gängelung von Medien und Justiz zahlreiche Bürger sowie die sozialdemokratische Opposition auf die Straßen. Die Proteste zogen sich über Monate, schließlich gab Gruevski sein Premiersamt auf, und nach etlichen Verzögerungen folgten Neuwahlen. Nun ist aus der politischen eine Verfassungskrise geworden.

Auch die Demonstrationen gegen die Machthaber hatten ihre Farben. Mit Farbbeuteln bewarfen die Teilnehmer etliche der neo-klassizistischen Monumente, die die Regierung in den vergangenen Jahren zur Verherrlichung der mazedonischen Geschichte errichten ließ. Die Spuren sind auf manchen Kitsch-Fassaden bis heute zu sehen. Doch damals hatten die Proteste eine völlig andere Atmosphäre als jetzt, berichten Beteiligte: Die Kraft der Zivilgesellschaft sei zu spüren gewesen.

Kritische Organisationenunter Druck

Um diese macht sich Uranija Pirovska mittlerweile Sorgen. Die Geschäftsführerin der mazedonischen Abteilung des Helsinki-Komitees für Menschenrechte nahm an etlichen Demonstrationen teil. Bespitzelt wurde sie seit 2011, wie sie später erfahren hatte. Die "Schmutzkampagne gegen kritische Nichtregierungsorganisationen" trifft sie auch persönlich. Nicht nur dem Helsinki-Komitee, sondern auch ihr selbst wird vorgeworfen, im Dienst einer ausländischen Kraft zu stehen, sich vom in den USA lebenden Investor George Soros bezahlen zu lassen. Zwar wird die Organisation tatsächlich von einer Stiftung unterstützt, die Soros gegründet hatte. Doch den größeren Teil der Spenden steuern andere Sponsoren bei. Der Druck, der auf die NGO ausgeübt wird, ist nicht nur ein politischer: Das Helsinki-Komitee muss derzeit alle paar Tage Finanzprüfungen über sich ergehen lassen.

Für die Zivilgesellschaft sind das immer mehr Hürden. "Die Propaganda gegen uns ist so heftig", sagt Pirovska: "Und wir können dem nur wenig entgegensetzen." Außerhalb der Hauptstadt Skopje hätten etliche Einwohner kaum Zugang zu anderen Medien als den staatlich kontrollierten. Manche hätten deswegen nicht einmal von den Protesten gegen die Regierung erfahren.

"Einen Feind kreieren, um von Problemen abzulenken"

Gleichzeitig folgt die Verleumdung der Organisationen einem Muster von Machthabern, unterstreicht Pirovska: "Die Methode ist, einen Feind zu kreieren und damit von den tatsächlichen Problemen des Landes abzulenken."

Von denen gibt es nicht wenige. Die Annäherung des EU-Beitrittskandidaten an die Union und das Militärbündnis Nato stockt. Der Namensstreit mit dem angrenzenden Griechenland ist ungelöst. Die Regierungskrise hat auch Auswirkungen auf die Wirtschaft. Diese könnte heuer um drei Prozent und mehr wachsen - falls politische Stabilität erreicht wird. Die Zahl der Arbeitslosen ist in den vergangenen Jahren zwar zurückgegangen, doch noch immer hat offiziell jeder vierte Mazedonier keinen Job. Das monatliche Durchschnittsgehalt liegt bei 400 Euro und das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf nicht einmal bei einem Drittel des EU-Schnitts.

Hinzu kommt, dass die ausländischen Investitionen eingebrochen sind. Im Vorjahr machten sie an die 400 Millionen Euro aus. "Doch heuer lagen die Investitionen laut den März-Zahlen bei null - das hat es vorher nicht gegeben", erzählt Dimitar Ristovski vom Europäischen Unternehmensverband. Die politische Lähmung schrecke aber nicht nur Investoren aus dem Ausland ab. Generell "gehen die wirtschaftlichen Aktivitäten zurück, weil der Staat nicht funktioniert", betont Ristovski. Sein Kollege von der Wirtschaftskammer für Nordwest-Mazedonien, Fatmir Bytyqi, formuliert es noch deutlicher: "Der Staat, eine Gruppe von Politikern, hat die Wirtschaft gekapert."

Korruption, Rechtsunsicherheit, ständig wechselnde Vorschriften, unfairer Wettbewerb - all das gehört zu den Schwierigkeiten, mit denen Unternehmer zu kämpfen haben. Bytyqi weist außerdem auf starke regionale Unterschiede hin, die aus der Vernachlässigung mancher Gebiete resultieren sowie auf den Mangel qualifizierter Arbeitskräfte. Denn trotz hoher Arbeitslosenraten haben manche Firmen Probleme bei der Stellenbesetzung. Daher plädieren in Mazedonien auch die Arbeitgeber für eine Anhebung des Mindest- und Durchschnittsgehalts. Denn eine Lehre scheint nicht zuletzt wegen der schlechten Bezahlung vielen nicht erstrebenswert zu sein.

Auf der Suche nach Perspektiven im Ausland

Umgekehrt gilt eine Beschäftigung im Staatsdienst noch immer als attraktiv. Ristovski führt eine Umfrage unter Jugendlichen an: Demnach möchten von hundert jungen Menschen 78 eine Anstellung in der öffentlichen Verwaltung finden und wünschen sich lediglich zwölf einen Job in der Privatwirtschaft. Und jeder Zehnte würde sich am liebsten in einem anderen Land nach Perspektiven umsehen.

An die 400.000 Menschen haben in den vergangenen fünf Jahren laut Schätzungen Mazedonien verlassen. Zumindest ein Viertel von ihnen hat bereits einen EU-Pass, die Hälfte davon einen bulgarischen. Diese Zahlen hat das Recherche-Netzwerk BIRN veröffentlicht: Von 2005 bis 2015 haben fast 58.000 Mazedonier in Bulgarien einen Pass beantragt und erhalten. Knapp 49.000 Menschen bekamen das Dokument in einem anderen Land, das der Europäischen Union oder dem Schengen-Raum angehört - in der Schweiz, Italien, Deutschland oder Österreich.

Die Emigranten sind oft jung und gut ausgebildet. Dennoch wird die Abwanderung nicht immer als problematisch angesehen, nicht einmal in Wirtschaftskreisen. Denn das Geld, das die Menschen in ihre Heimat schicken, macht immerhin ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts aus. Darauf verweist Dimitar Ristovski vom Unternehmerverband und meint: "Emigration hat es schon immer gegeben, auch in anderen Ländern. Doch dann kommen die Menschen wieder zurück, mit neuen Erfahrungen und neuer Motivation, hier etwas eigenes aufzubauen." Derzeit scheint das aber mehr Wunschdenken denn Realität zu sein.