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Gewalt in den Vorstädten ist altes Problem. | Verwahrlosung und Perspektivlosigkeit. | 70.000 Gewalttaten wurden in französischen Städten seit dem Jänner dieses Jahres verzeichnet, 28.000 Autos und 17.500 Mistkübel wurden angezündet. In nur elf Tagen kamen nun mindestens 3.500 verbrannte Autos dazu, und auch wenn Innenminister Nicolas Sarkozy davon spricht, man habe eine solche Situation seit Monaten kommen sehen, reagiert die Politik überrascht und hilflos.
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Sarkozy hat sich den Jugendlichen in den Vorstädten selbst als willkommenes Angriffsobjekt angeboten, als er vom Gesindel sprach, das wegekärchert werden müsse. Er äußerte sich in einem Beitrag für "Le Monde" zufrieden mit den Reaktionen auf seine "Null-Toleranz"-Politik: "Während die Kriminellen und Gauner unsere Sicherheitspolitik nicht lieben, wird sie offensichtlich von den Franzosen unterstützt." Tatsächlich haben laut einer Umfrage 57 Prozent noch immer ein gutes Bild vom Innenminister. Sein Konkurrent um die Nachfolge von Präsident Jacques Chirac, der gleichfalls aus dem konservativen Lager kommende Premier Dominique de Villepin, brauchte fünf Tage, um konzilianter, aber auch unverbindlicher auf die Ereignisse zu reagieren.
Villepin verspricht nun einen Aktionsplan für die Problemviertel. Förderungen dafür gibt es allerdings schon seit Jahrzehnten, geschätzte 2,5 Millionen Euro sind seit 1975 Jahr für Jahr in die "sensiblen urbanen Gebiete" geflossen. Dass sich deren Zahl von 1992 bis 2002 verdoppelt hat, spricht für die Wirkungslosigkeit. Liegt die Jugendarbeitslosigkeit im Landesschnitt ohnehin bei hohen 23 Prozent, beträgt sie in diesen Gebieten sogar 36 Prozent. Das Jahreseinkommen eines - oft kinderreichen - Haushalts liegt im Schnitt bei 19.000 Euro.
In den verwahrlosten HLM(habitation à loyer modéré)-Sozialwohnblöcken haben in den letzten Jahrzehnten Einwanderer, meist aus den ehemaligen französischen Kolonien, immer stärker die weißen Unterschichten verdrängt. Die Jugendlichen der zweiten oder dritten Migrantengeneration fühlen sich wie in einem Ghetto. Auch Leute mit guter Schulausbildung finden keinen Job. Ein arabisch anmutender Name und die Wohnadresse genügt, um jeden Arbeitgeber zu vergraulen.
Die Perspektivlosigkeit schürt den Hass - auf den Staat, auf seine Symbole, er richtet sich aber auch scheinbar ziellos gegen die unmittelbare Umgebung. Zwar sind Elemente von Vernetzung - durch Internet oder SMS - erkennbar, aber von perfekter Organisation will nur der Innenminister sprechen. Polizisten orten eher einen destruktiven Wettstreit der Banden - "die wollen sich in den Nachrichten im Fernsehen sehen", sagte einer im Rundfunk.
"Was kann sich ein junger Mensch erhoffen, der in einem Viertel ohne Seele geboren wird, der in einem hässlichen Haus lebt, umgeben von anderen Hässlichkeiten, von grauen Mauern in einer grauen Landschaft für ein graues Leben, mit einer Gesellschaft rundherum, die ihren Blick lieber abwendet und erst einschreitet, wenn man sich aufregt?", fragte Präsident Francois Mitterand bereits im Jahr 1990. Trotzdem setzten auch die Sozialisten weiter Betonsilos in die grünen Wiesen der "banlieue", der Vorstadt. Die architektonische Isolation wird durch den nicht-europäischen kulturellen Hintergrund noch verstärkt.
Französisch können die Zerstörungswütigen allerdings alle. Daher scheint eine Gleichsetzung mit Deutschland verfehlt, wie sie der designierte Innenminister Wolfgang Schäuble mit seiner Forderung nach mehr Sprachkenntnissen für Einwanderer vornahm. Vergleichbare Sozialghettos finden sich in seinem Land am ehesten in den tristen Plattenbauten ostdeutscher Städte. Dort richten die Jugendlichen freilich ihren Frust just gegen Immigranten.
Allerdings könnten sich auch in anderen europäischen Ländern Nachahmungstäter finden. In ärmeren Vierteln von Brüssel, Berlin und Bremen brannten am Montag ein Dutzend Autos. Eine Verbindung zu den Vorgängen in Frankreich hielt die Polizei aber für eher unwahrscheinlich.