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In lichter Höhe auf festem Boden

Von Thomas Karny

Wissen

Brücken repräsentieren zuweilen den Superlativ des menschlich Machbaren, stehen als Metapher für Verbindendes, sind in ihrer Charakteristik prinzipiell einladend, aber letztlich doch fragil.


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Die Holzgauer Hängebrücke ist mit über 200 Meter Länge Österreichs längste Hängebrücke.
© Lechtal Tourismus/kdg-Mediascope

Als Kind verbrachte ich meine Sommerferien regelmäßig in Mettersdorf am Saßbach, einem südsteirischen Marktflecken nahe der slowenischen Grenze, wo mein Onkel einen Hof bewirtschaftete. Ungeachtet meiner städtischen Herkunft und meines Gaststatus wurde ich gemeinsam mit meinem Cousin und vier Cousinen in den landwirtschaftlichen Tagesablauf aus Viehversorgung und Feldarbeit eingebunden. Wenn ich am Abend hundemüde im Bett lag, aber trotzdem nicht schlafen konnte, wanderte mein Blick auf ein über dem Kopfende angebrachtes Bild. Es zeigte ein Mädchen und einen Buben, die auf einem klapprigen Holzsteg Hand in Hand eine tiefe Schlucht überqueren. Ein Engel beschützt das Kinderpaar bei ihrem gefährlichen Übergang. Denn im Holzsteg fehlt ein Querbalken, und darunter braust ein mächtiger Fluss, der gnadenlos jeden, der durch die verhängnisvolle Leerstelle stürzt, mitreißt und verschlingt. Zwar empfand ich das Bild als religiös-gloriolen Kitsch und die abgebildete Topographie, die dem realen Flachland ebenso wenig ähnelte wie das Brücklein irgendeinem Übergang über den Saßbach, als irritierend. Das Motiv aber fand ich aus meiner kindlichen, abenteuer-romantischen Sicht packend.

Die Symbolik beeindruckt mich noch heute: Zwei Kinder, ausgesetzt den Fährnissen ihres noch jungen Lebens, sind auf dem Weg, Neuland zu betreten. Der Steg, so desolat sein Zustand und so angsteinflößend das schroffe Gelände ringsum auch sein mögen, bietet die einzige Möglichkeit, von hüben nach drüben zu kommen. Dem Engel sei Dank werden die Kinder die andere Seite der Schlucht sicher erreichen. Doch der Betrachter ahnt, dass auch sie früher oder später der existenziellen Einsamkeit ausgesetzt sein werden, die Nietzsche einst so beschrieb: "Niemand kann dir die Brücke bauen, auf der gerade du über den Fluss des Lebens schreiten musst, niemand, außer dir allein." So mancher, der mit der Brücke des Lebens nicht zurechtkommt, wählt die real vorhandene zur finalen Lösung. Jährlich springen hierzulande knapp 200 Menschen "aus großer Höhe" in den Tod.

Wann Menschen die erste Brücke bauten, ist nicht bekannt. Archäologische Funde lassen darauf schließen, dass in Europa bereits in der Jungsteinzeit (5500 bis 2200 v. Chr.) Bohlenwege zur Überquerung von Sümpfen angelegt wurden. Später entstanden die ersten richtigen Brücken aus Holz, und 1300 v. Chr. baute man auf dem Peloponnes die Brücken von Arkadiko, die ersten einfachen Steinbrücken. Die Römer errichteten ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. die uns heute noch vertrauten Bogenbrücken aus Stein und setzten dafür bereits das Opus caementitium, einen Vorläufer des Betons, als Verfestigungsmittel ein. In den Tiefen des tropischen Urwalds wiederum wurden Baumwurzeln und zu Seilen geflochtene Lianen für den Bau von Hängebrücken verwendet.

Auf den ersten Blick ähnelt die Ponte 25 de Abril in Lissabon (Foto unten) der Golden Gate Bridge in San Francisco (Foto oben). Das eigentliche Vorbild ist jedoch die San Francisco Bay Bridge (Foto Mitte).
© StockXchng/deenzee (links), Corbis (mitte und rechts)

Den Brückenbau betrieb man seit jeher vor allem aus ökonomischen und militärischen Gründen. Taleinschnitte und Flüsse ließen sich leichter überqueren, man sparte sich Umwege und war auf kein Boot angewiesen. Der Transport von Waren war auf diese Art ebenso schneller zu bewerkstelligen wie der Nachschub von Soldaten. Der durch Brücken erfolgte Lückenschluss vergrößerte das Straßennetz und erleichterte Handel und Kontakt. Zuweilen bekamen Brücken eine derart hohe Bedeutung, dass sogar Orte nach ihnen benannt wurden, wie die zahlreichen Namenskombinationen mit Bruck zeigen. Auch das bosnische Mostar, dessen "Alte Brücke" als Symbol multiethnischen Zusammenlebens 1993 im Zuge der Kriegshandlungen durch Beschuss von kroatischer Seite zerstört worden war, heißt übersetzt "Brückenwächter".

Ehrfürchtig bestaunen wir die 49 Meter breite Sydney Harbour Bridge und bewundern die durch japanisches Erdbebengebiet führende und mit gigantischen Schwingungsdämpfern ausgestattete Akashi-Kaikyo-Brücke. Die Golden Gate Bridge ist eine Ikone des Brückenbaus und die Brücke über den Bosporus verbindet Kontinente. Mit dem Fortschritt der Ingenieurskunst wurden von Menschenhand geschaffenen Übergängen imposante Demonstrationen des bautechnisch Machbaren. Bereits die 1854 für den Verkehr freigegebene Semmeringbahn führt über 16 teils zweistöckige Viadukte. Für die Errichtung der drei Jahre zuvor eröffneten Göltzschtalbrücke in Sachsen hatten 20 Ziegeleien 26 Millionen gebrannte Lehmquader geliefert. Der über vier Etagen aufragende und von 98 Gewölben gestützte 574 Meter lange Übergang über die Göltzsch ist heute noch die größte Ziegelbrücke der Welt. Die Dimensionen haben sich mittlerweile ins nahezu Unglaubliche verschoben: Zwischen Shanghai und Peking rast der Hochgeschwindigkeitszug über die auf zahlreichen Stelzen geführte Danyang-Kushan-Brücke: Sie ist mit 164 Kilometern aktuell der globale Superlativ. Die großen Brücken versetzen uns in Staunen, aber die kleinen sind es, die das alltägliche Leben auf unaufgeregte Art erleichtern. Was etwa wären Venedig oder Amsterdam ohne sie?

Gusseisen, Schmiedeeisen und schließlich der vom Franzosen Eugène Freyssinet in den 1930er Jahren entwickelte Spannbeton führten zu einer rasanten Entwicklung im Brückenbau, die auch eine Vielzahl verschiedener Bauformen wie Balken-, Hänge- und Schrägseilbrücken hervorbrachte. Die Arbeiter lebten gefährlich, nahezu jedes größere Projekt forderte noch bis vor ein paar Jahrzehnten einen erschreckend hohen Blutzoll, etwa jenen von 22 Männern beim Bau der vor fünfzig Jahren fertiggestellten Europabrücke. Berechnungen der Statik, mittlerweile das Um und Auf einer tragfähigen Konstruktion, waren lange nicht üblich. Und als sie nach und nach in den Ingenieursbüros Einzug hielten, kam es zuweilen zu fatalen Fehlkalkulationen. Am 28. Dezember 1879 war die beeindruckende, im Stahlfachwerk errichtete Brücke über den drei Kilometer breiten Firth of Tay zwischen Dundee und Wormit während eines Orkans eingebrochen. Der Schnellzug aus Edinburgh, der sie gerade querte, stürzte ins Wasser. Keine der 75 Personen überlebte das Unglück. Es stellte sich heraus, dass die Brücke neben zahlreichen baulichen Mängeln für viel zu geringe Windlasten und Eisenbahngeschwindigkeiten ausgelegt war.

"Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand", dichtete Theodor Fontane dann auch in seiner auf dieses Unglück Bezug nehmenden Ballade "Die Brücke am Tay". Auf einer Brücke hatte der Schriftsteller 34 Jahre zuvor um die Hand von Emilie Rouanet-Kammer angehalten. Nahezu 50 Jahre wird er mit ihr verheiratet sein, eine eherne Ehe, versprochen auf der gusseisernen Weidendammer Brücke in Berlin. Jener Brücke, auf der Erich Kästner Pünktchen und Anton zum Streichholz- und Schnürsenkelverkauf ausschickte.

Die Kunst hat die Brücke oft als Metapher gewählt. Deutsche Expressionisten schlossen sich 1905 zur Künstlergruppe "Die Brücke" zusammen, Simon and Garfunkel sangen von einer "Bridge over Troubled Water", und Diane Reeves widmete den "Bridges" einen stimmungsvollen Song. Ivo Andrič schrieb "Die Brücke über die Drina", Regisseure stellten in ihren Filmen die Brücke von Arnheim, am Kwai, von Terabithia oder am Fluss in den Mittelpunkt, 1959 drehte Bernhard Wicki "Die Brücke" und damit für eine gewisse Generation den Anitkriegs-Schulfilm schlechthin.

Der Papst weist sich mit dem Titel "Pontifex Maximus" als oberster Brückenbauer der Welt aus, und die Rückseite jeder Euro-Banknote prägt zur Versinnbildlichung der Union ein Brückenmotiv. Wer jemandem eine goldene Brücke baut, lädt den anderen ein, ohne Gesichtsverlust aufeinander zuzugehen. Wer Brücken schlägt, schafft Verbindung. Die Brücke als Metapher ist positiv besetzt. Selbst der, der unter der Brücke schläft, hat zwar kein Zuhause, aber in gewisser Weise doch ein Dach überm Kopf. Zuweilen werden reale Brücken selbst zum Symbol, wie etwa die Glienicker Brücke in Berlin, auf der während des Kalten Krieges mehrere spektakuläre Agentenaustausche stattfanden, oder die kleine Holzbrücke von Andau, über die während des ungarischen Volksaufstandes 1956 rund 70.000 Menschen nach Österreich flüchteten. Holz kommt heute außer bei Behelfsbrücken des Bundesheers kaum mehr zur Anwendung. Aber auch hier sind die sogenannten D-Brücken mittlerweile aus Metall gefertigt, bis zu 100 Meter lang und für Lasten von bis zu 40 Tonnen ausgelegt.

Auf Grund ihrer offenen Charakteristik sind Brücken eine Art Vertrauensvorschuss gegenüber dem, der kommt, und deshalb auch Weichstellen der Gesellschaft. Um sich vor unerwünschten Eindringlingen zu schützen, zog man bis ins Mittelalter allabendlich die Brücken über den Stadtgraben hoch. Militärstrategisch sind Brücken äußerst sensible Objekte, die nötigenfalls durch eigene Hand zerstört werden müssen. So weist etwa die Europabrücke der Brennerautobahn, die bei ihrer Eröffnung 1963 als völkerverbindendes Symbol gepriesen wurde, aber im Raumverteidigungsplan des Kalten Krieges eine wichtige taktische Rolle spielte, militärische Sperreinrichtungen und Sprengschächte auf. – Wer alle Brücken hinter sich abbricht, kappt bestehende Verbindungen. Diese nicht nur metaphorische Radikalität charakterisiert die letztlich doch recht augenscheinliche Fragilität dieses Bauwerks.

Print-Artikel erschienen am 2. August 2013 in: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal". Seite 4 bis 9.