)
Flaggenstreit führt zu allnächtlichen Tumulten auf den Straßen Belfasts.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
London. Das neue Aufflammen blutiger Krawalle in Belfast hat Politiker und Polizei in Nordirland aufgeschreckt. Wenn die Lage weiter außer Kontrolle gerate, müsse man ein Wiedererstarken paramilitärischer Gruppen in der Provinz und einen Rückfall in eine Phase gefährlicher Gewalt befürchten, meinen besorgte Stimmen.
Bereits Anfang Dezember hatten sich am Beschluss des Stadtrats von Belfast, den Union Jack nur noch an einer begrenzten Zahl von Tagen über dem Rathaus der nordirischen Hauptstadt aufzuziehen, wütende Aktionen tausender Protestanten entzündet. Nach einer kurzen Atempause über Weihnachten haben die Loyalisten ihren Widerstand in verschärfter Form wieder aufgenommen. Seit vorigem Donnerstag sind kein Tag und keine Nacht vergangen, an denen es nicht zu blutigen Zusammenstößen zwischen vermummten Loyalisten und Polizeieinheiten gekommen ist. Protestanten blockierten Straßenzüge in Ost-Belfast, legten mit Feuerwerkskörpern auf die Polizei an, bewarfen Polizisten mit Brandbomben, Flaschen und Steinen und suchten einzelne Beamte mit Laser-Stiften zu blenden. In einem Fall wurden auch Schüsse auf die Polizei abgegeben.
Die Polizei ihrerseits setzte Plastikgeschosse und Wasserwerfer ein. Mehr als 60 Polizisten und eine ungenannte Anzahl von Zivilisten sollen seit Beginn der Unruhen vor einem Monat verwundet worden sein.
Gleichzeitig wurden die Büros und Privatwohnungen mehrerer katholischer und gemäßigt-protestantischer Lokalpolitiker belagert oder attackiert. Selbst gegen den protestantischen Regierungschef Nordirlands, Peter Robinson, sind Aktionen geplant. Robinson hat, nach anfänglichem Zögern, die Ausschreitungen nachdrücklich verurteilt. Robinson habe die protestantische Bevölkerung im Stich gelassen, klagen die Aufständischen.
Gespeist wird der Zorn von einem Gefühl wachsender Ohnmacht in den protestantischen Ghettos von Belfast. In Stadtvierteln, in denen die meisten Jugendlichen arbeitslos sind und nur wenig Aussicht auf eine bessere Existenz haben, hat der Fahnenstreit die bittersten Ressentiments hervorgerufen.
Die größte Sorge in Nordirland ist nun, dass die Krawalle militanten Gruppen beider Seiten Auftrieb geben - und dass diese Gruppen einander gegenseitig hochschaukeln könnten. Die Polizei hat unter anderem bestätigt, dass einflussreiche Mitglieder des ehedem gefürchteten loyalistischen Terrorverbandes UVF (Ulster Volonteer Force) an den Aktionen maßgeblich beteiligt sind.
Jüngste Angriffe auf die kleine katholische Enklave Short Strand in Ost-Belfast und der Loyalisten-Plan einer Ausweitung der Proteste nach Dublin haben indes auch zu Reaktionen am extremistischen Rand des katholischen Lagers geführt. Republikanische Dissidenten wie die der Continuity IRA drohen den Loyalisten "Gegenmaßnahmen" an. Die neue Gewaltwelle, befürchtet man in Belfast, dürfte den Dissidenten neue Rekruten zuführen.
Die Belfaster Alliance-Abgeordnete Naomi Long fühlt sich von den gegenwärtigen Ereignissen bereits ungut an den Beginn der "Troubles", der langjährigen blutigen Unruhen in Nordirland, erinnert: "Hier spiegelt sich doch einiges aus den Jahren 1969 und 1970 wider. Damals suchten Leute, die sich bedroht fühlten, unglücklicherweise auch bei paramilitärischen Gruppen Schutz."
Andere Beobachter halten das "neue Nordirland" für gefestigt genug, um der Gefahr zu widerstehen.