Anna und Wladislaw Ryschenko aus der Ostukraine haben sich getrennt. Ihre Ehe ist am Ukraine-Konflikt zerbrochen.
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Donezk/Kiew. (n-ost) Anna Ryschenko flaniert gut gelaunt über den Maidan an diesem warmen Spätsommerabend, im blauen Jeansrock und gelben Top. Macht zusammen die Flagge der Ukraine, die Modefarben in diesem Kriegssommer. Die fliegenden Händler auf dem Maidan verkaufen nahezu alles in Blau und Gelb, daneben liegen Klopapier und Fußabtreter mit dem Konterfei des russischen Präsidenten.
Anna Ryschenko, 40 Jahre alt, geht langsam vorbei an den Rahmen mit den Bildern der Männer, die auf dem Maidan starben, um Janukowitsch zu stürzen, und die nun in Kiew und anderswo als "Himmlische Hundertschaft" besungen werden. Gerade hat Anna ihren achtjährigen Sohn Wolodja in Kiew eingeschult. Sie hat die ukrainische Nationalhymne gesungen und dabei geweint. "Ich habe selbst nicht geglaubt, dass ich so eine verrückte Patriotin werden könnte", sagt sie.
Denn in Annas Heimat werden die Männer der "Himmlischen Hundertschaft" nicht besungen, sondern als Faschisten beschimpft. Wer dort in Blau und Gelb durch die Stadt flaniert, hat dieser Tage gute Chancen, als "Volksfeind" an den Pranger gestellt zu werden. In ihrer Heimat, der ostukrainischen Stadt Donezk, sind nun jene an der Macht, in deren Wahrnehmung die Ukraine seit Februar von Faschisten regiert wird. Anna ist im Juni geflohen. Sie hat ihren Sohn mitgenommen und ihren Mann zurückgelassen. Die jüngste Geschichte der Ukraine ist auch die von Anna und Wladislaw.
Russisch oder ukrainisch, das war lange eine Frage, die nur in Wahlkampfzeiten hochgekocht wurde, um Wähler zu mobilisieren. In Russland sprach man am liebsten vom ukrainischen Brudervolk. Doch nun sind die Brüder Feinde. Im Osten des Landes töten sie einander mit Kalaschnikows und Grad-Raketen und behaupten dabei beide, sie würden gegen das Böse kämpfen. Im Rest des Landes überwerfen sich Familien über die Frage, wer recht hat.
Wladislaw Ryschenko sitzt an diesem Septembertag in einem Büro in Donezk und trinkt Tee. Momentan herrscht Waffenruhe, deshalb hört man das Donnern der Artillerie aus der Gegend um den Flughafen nur nachts. Tagsüber ist wieder so etwas wie Normalität eingekehrt. Aber was ist schon normal? Wladislaw zeigt auf einen Zettel an der Wand mit etwa zwei Dutzend Namen, alles Mitarbeiter, die wie der 47-Jährige mit dem Vertrieb von Bürobedarf beschäftigt waren. Vor dem Krieg. Jetzt sind sie noch zu zweit.
Verwirrung wich dem Trotz
"Meine Frau soll jetzt proukrainisch sein? Weiß der Henker, wofür die jetzt eigentlich ist", sagt Wladislaw. Es spricht Verachtung aus seiner Stimme. Seit dem 1. Juni beschränkt er den Kontakt mit seiner Ex-Frau auf das Nötigste, telefoniert mit Wolodja, dem Sohn.
Wladislaw ist ein typisches Kind der Sowjetunion. Geboren 1967 in Donezk in eine gemischt russisch-ukrainische Familie, hat er die meisten Verwandten in Russland. "Wenn ich da anklopfen würde, würden sie mich reinlassen", ist er überzeugt. Aber er will nicht weg, er glaubt an seine Zukunft in der "DNR", der "Donezker Volksrepublik", jetzt eben ohne die Ukraine. Und ohne Frau und Kind. Das Gefühl der Verwirrung ist bei Wladislaw etwa im März einem gehässigen Trotz gewichen.
2005 lernten Anna und Wladislaw sich in Donezk kennen, da hatte die Ukraine gerade die Orange Revolution hinter sich. Die Politik störte sie nicht, auch wenn sie unterschiedlicher Ansicht waren. Er stimmte für Janukowitsch, sie für Timoschenko, "weil man einem Debilen einfach nicht seine Stimme geben darf", wie sie sagt. Doch über die Jahre wurden sie ein immer ungleicheres Paar: Sie, Buchhalterin mit Universitätsabschluss, stieg zur Abteilungsleiterin bei einem regionalen Stromversorger auf, verdiente das Dreifache seines Gehalts. Das führte zu Spannungen. Der Maidan war also nicht Ursache für die Scheidung, aber ihr Auslöser.
Im November, als die ersten Bilder von demonstrierenden jungen Menschen aus Kiew nach Donezk gelangten, waren die Eheleute unschlüssig. Wladislaw schien es, als richte sich der Protest gegen die Oligarchen, das fand er gut. Beide machten sich auf die Suche nach Erklärungen.
Anna unterhielt sich fortan auf Facebook mit Freunden aus Kiew, um Berichte aus erster Hand zu bekommen. Wladislaw dagegen schaltete Rossija-24 ein, den russischen Nachrichtensender, der so seriös und aufregend rüberkommt wie CNN, aber den Menschen die Kremllinie eintrichtert. "Schalt den Schrott aus", schimpfte sie dann und versuchte zu beweisen, dass dort gelogen wird. Aber ab März glaubte er dem Fernseher mehr als seiner Frau.
Schwieriger Neuanfang
Wladislaw war schließlich dabei, als ein paar tausend Leute die Regionalverwaltung besetzten und die russische Flagge hissten. Ihm gefiel die Idee von "Noworossija", einem eigenen Staat aus den südöstlichen Regionen der Ukraine. Anna versuchte ihn in dieser Zeit noch zur Vernunft zu bringen. "Was für ein Noworossija? Ein zweites Transnistrien bekommt ihr", schimpfte sie. Wladislaw winkte nur noch ab.
Er war jetzt infiziert von der Revolutionsatmosphäre, demonstrierte oft. Nach der Eroberung der Staatsanwaltschaft landete er mit einer Gehirnerschütterung im Spital. Dann zog er zu seiner Mutter. Anna nennt es einen Rausschmiss. "Er hat danach gebettelt, dass ich ihn wieder reinlasse", sagt sie. Aus ihrer Stimme klingt Verachtung.
Auch Annas Elternhaus ist russisch, der Vater aus dem Ural, die Mutter aus der Region Kursk. Dass sie sich mit ihrem Sohn am 1. Juni in den Zug nach Kiew setzt, liegt wohl daran, dass Anna etwas jünger ist als ihr Mann, dass die Sowjetunion, in der sie nur die ersten 16 Jahre ihres Lebens verbracht hat, weniger Fixstern ist als die neue Heimat, die Ukraine. Sie lacht dieser Tage viel, obwohl sie vor einem schwierigen Neuanfang steht. In erster Linie braucht sie jetzt einen Job. "Aber ich bin eben kein Sowjetmensch wie meine Eltern: Die haben immer Angst vor Veränderungen", sagt sie. Ihr Ex-Mann in Donezk hingegen stellt seinen Tee auf den Bürotisch, und schwört mit Bitterkeit in der Stimme: "Meinen Sohn hole ich aus Kiew zurück."