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In schlechter Verfassung

Von Walter Hämmerle

Leitartikel

Vor genau 90 Jahren, am 1. Oktober 1920, beschloss die Konstituierende Nationalversammlung der jungen Republik das Österreichische Bundes-Verfassungsgesetz.


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Österreichs politische Elite begeht diesen Jahrestag mit der gebotenen Dezenz. Sollte dies wider Erwarten Hinweis auf ein - durchaus angebrachtes - schlechtes Gewissen der politischen Parteien sein: Wunderbar. Einsicht ist bekanntlich der erste Schritt zur Besserung. Tatsächlich haben SPÖ und ÖVP insgesamt wenig politische Demut vor der Verfassung erkennen lassen und ihr mit fast schon anarchischer Regelungswut ihren Willen aufgezwungen. Entsprechend zerzaust in ihrer Grundstruktur schaut sie heute auch aus.

Dieser machiavellistisch-pragmatische Zugang der Parteien hat sich in der Zweiten Republik nicht nur auf die Verfassung beschränkt, er zieht sich vielmehr wie ein roter Faden durch alle potenziellen Einflussgebiete politischer Macht: von der staatsnahen Wirtschaft über Medien und Kultur bis hin zur organisierten Zivilgesellschaft. Motto der Parteien: Nehmt, was euch gegeben wird.

Dieser Versuchung hat noch keine politische Partei seit 1945 widerstehen können, die die Probe aufs Exempel machen musste. Selbst die Freiheitlichen, die sich - einst unter Jörg Haider genauso wie jetzt unter Heinz-Christian Strache - stets als Saubermänner inszenieren, nehmen von einem Bundesland schamlos Besitz, wenn es ihnen in den Schoß fällt. Zwischen dem blauen Kärnten, dem roten Wien und dem schwarzen Niederösterreich besteht deshalb allenfalls ein gradueller, aber kein grundsätzlicher Unterschied.

Die Frage der effizienten Kontrolle der politisch Mächtigen gegenüber Missbrauch aller Art muss deshalb in den Fokus der politischen Debatte rücken. Der Zwang zu völliger Transparenz beim Umgang mit öffentlichen Mitteln und die Stärkung von Minderheitenrechten in den Parlamenten sind dazu der einzige Weg. Wo, wenn nicht in der Verfassung, sollte dies festgeschrieben sein?

Schade nur, dass Verfassungsfragen in diesem Land niemanden interessieren - nicht die Politik und leider auch nicht die Öffentlichkeit.