Gewerkschaften machen gegen paramilitärische Milizen mobil.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Tunis. Zwei Jahre, nachdem der Startschuss für den Arabischen Frühling in Tunesien gefallen ist, kommt das Land politisch nicht zur Ruhe. Bei einer Kundgebung in Sidi Bouzid, dem symbolträchtigen Ort, an dem sich am 17. Dezember 2010 der junge Gemüsehändler Mohammed Bouaziz aus Protest über die schlechte Wirtschaftslage selbst verbrannte, wurde der Staatsspitze ein "heißer" Empfang bereitet: Unmittelbar am Bouaziz-Grab erntete Staatspräsident Marzouki in Begleitung von Parlamentspräsident Ben Jafaar von Umstehenden wüste Beschimpfungen: Er solle "verschwinden" und sich an diesem Ort "ja nicht mehr blicken lassen", hieß es. Die beiden Herren mussten von Polizeikräften geschützt und anschließend in die Präfektur vor dem Volkszorn in Sicherheit gebracht werden.
Dabei sollte nach der glorreichen Vertreibung des tunesischen Diktators Ben Ali im Jänner 2011 alles besser werden. Doch die Unzufriedenheit ist groß. Anfang Dezember, als an die Ermordung des Gewerkschaftsführers Farhat Hached vor 60 Jahren erinnert wurde, kam es in der Hauptstadt Tunis und anderen Städten des Landes zu gewaltsamen Ausschreitungen und Übergriffen. Die Auseinandersetzungen, in die der tunesische Gewerkschaftsbund UGTT sowie Mitglieder der "Tunesischen Liga zum Schutz der Revolution", die der Regierung nahe stehen, verwickelt waren, mündeten in blutige Straßenschlachten. Dutzende, wenn nicht hunderte Demonstranten landeten im Krankenhaus. Meist handelte es sich um Beinbrüche oder Augenverletzungen.
"Politischer Krieg"
Die Gewerkschaft führt seit Monaten einen Krieg gegen die moderat-islamistische Regierungspartei Ennadha, auch wenn sie dies offiziell nicht zugibt. Ein in letzter Sekunde abgesagter Generalstreik letzten Donnerstag hätte das Land weiter gespalten. Die Gewerkschaftsanhänger stehen auf dem Standpunkt, der Generalstreik sei "ein legitimes Mittel", um gegen Polizeigewalt zu protestieren. Die Unterstützer der Islamisten meinen, ein Generalstreik wäre ein politischer Krieg gegen Ennadha, der sich schädlich auf die wirtschaftliche Lage des Landes auswirken würde. "Wir denken zuerst an die Zukunft unseres Landes, das nicht in eine solch gefährliche Lage gebracht werden darf", sagen sie.
Eine Hauptforderung des UGTT ist jedenfalls das Verbot der paramilitärischen Milizen im Land. Sie werden von vielen Tunesiern als die eigentlichen Unruhestifter angesehen. Ahmad Ibrahim, Generalsekretär der oppositionellen Linkspartei "Al Massar", sage den Gewerkschaftern zuletzt mit kämpferischen Worten Unterstützung zu. Die "kriminellen Banden", die als "bewaffnete Milizen verkleidet durch das Land ziehen und Chaos säen", würden sich im Fahrwasser der Regierungspartei Ennadha bewegen, so Ibrahim. Die Gewerkschafter erinnern zudem, dass sie es waren, die via Massenproteste die Revolution gegen Ben Ali getragen haben.
Nach der Absage des Generalstreiks nur wenige Stunden vor dessen Beginn bleibt das politische Klima in Tunis ebenso wie im Landesinnern bis zum Zerreißen gespannt. Mit ihrer Forderung, die Revolutionsgarden aufzulösen, steht der Gewerkschaftsbund aber bis dato ziemlich alleine da. Seine zweite Forderung im Zusammenhang mit dem Streikverzicht, die Regierung möge sich für den exzessiven Einsatz von Gewalt offiziell entschuldigen, erscheint angesichts der offenbar ausweglosen Lage mehr als zweifelhaft. Auch im Jahr drei nach der blutigen Revolution sind Unruhen vorprogrammiert, Tunesien kommt wie Ägypten nicht zur Ruhe.