Der Schock über die Ablehnung des Lissabon-Vertrages durch die Iren hat sich gelegt. Es ist weder richtig noch klug, die Iren zu züchtigen und an den Pranger zu stellen. Sie haben nur dem breiten Unbehagen über den Zustand des Integrationsprozesses Ausdruck gegeben. Die übrigen EU-Regierungen wussten, warum sie Referenden wie der Teufel das Weihwasser vermieden. Dieses Unbehagen zu verdrängen und zu leugnen und das irische Ergebnis nur auf Informationsmängel zurückzuführen, müsste die politische Legitimität des Integrationsgeschehens weiter aushöhlen. Die Grundlage des Integrationsprojektes bräche weg.
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Glücklicherweise hat sich die Meinung durchgesetzt, dass eine Lösung gemeinsam mit Irland gefunden werden muss. Doch Vorsicht: Bloße rechtliche und diplomatische Manipulation wird nicht genügen. Auch die Akrobatik um die abortive Verfassung - je nach Klientel war der Verfassungsersatz von Lissabon entweder etwas ganz Neues oder umfasste 96 Prozent des Verfassungsinhalts - zu wiederholen, reicht nicht.
Gefragt ist heute die ehrliche Analyse. Zuerst sollte man sich der flachen Behauptung enthalten, Lissabon würde sozusagen per se das Tor zu einer tüchtigen Zukunft der EU öffnen: mit effizienter Problemlösungsfähigkeit, voller Transparenz der Entscheidungsprozesse und für alle sichtbarer demokratischer Legimität.
Nun, Lissabon bringt eine gewisse Schärfung der institutionellen Werkzeuge, löst aber nicht das Kernproblem der auf 27 Mitglieder erweiterten und so heterogen gewordenen Union: Ein Mangel an gemeinsamem politischen Willen und an Kompromissbereitschaft unter Zurückstellung partikularer nationaler Interessen ist Ursache für die mangelnde Effizienz bei der Beantwortung der Herausforderungen, vor denen Europa steht. Hier liegt wohl der wesentliche Grund für die Skepsis der Bürger und den Verlust des Vertrauens in das Integrationsprojekt.
Eines sollten die politischen Akteure und Regierungen unbedingt vermeiden: die Krise um den Lissabon-Vertrag zum Anlass und Vorwand zu nehmen, in Entscheidungsunfähigkeit zu verharren. Denn alle dringenden Herausforderungen, vor denen die Union steht, könnten auch ohne Lissabon beantwortet werden, läge ein starker gemeinsamer politischer Wille vor.
Die EU bedarf einer ehrlichen Gewissenserforschung und der Konsolidierung des Erreichten, sowohl in der Sache als auch durch die Wiedergewinnung des emotionalen inneren Zusammenhalts, des Wir-Gefühls, nach der großen Erweiterung. Erweiterungsabenteuer über den Westbalkan hinaus (die Geiselnahme Kroatiens für Lissabon ist unverständlich und unfair, es könnte auch ohne Lissabon aufgenommen werden) dürften das Erreichen dieses Ziels sehr erschweren, wenn nicht endgültig in Frage stellen.
Manfred Scheich war von 1995 bis 1999 Ständiger Vertreter Österreichs bei der EU in Brüssel und ist Lehrbeauftragter für
Europapolitik an der Universität Innsbruck sowie Berater des österreichischen Instituts für Europa- und Sicherheitspolitik.