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Die versuchte Vergewaltigung von Varnika Kunda führt zu einer Lawine von Protestbekundungen.
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Für Varnika Kunda endete der vergangene Samstagabend mit einem Albtraum. Als sie kurz nach Mitternacht vom Einkaufszentrum in der nordindischen Stadt Chandigarh nach Hause fährt, bemerkt sie, dass ihr ein Geländewagen folgt. Die beiden Männer, die darin sitzen, beginnen die 29-Jährige zu bedrängen. Zuerst fahren sie neben ihr her, dann beginnt der Fahrer das Steuer in ihre Richtung zu verreißen, versucht sie auszubremsen und zum Anhalten zu zwingen. Immer und immer wieder. Varnika hat Angst. In Indien wird alle 21 Minuten eine Frau vergewaltigt. Stets schafft sie es, doch noch auszuweichen. Schließlich bei der Ampel wird sie geschnitten, der andere Wagen steht quer vor ihr. Varnika legt den Rückwärtsgang ein und braust davon. Per Handy verständigt sie die Polizei. Keine Spur mehr von dem Geländewagen. Gerade, als sie sich in Sicherheit wähnt, taucht er wie aus dem Nichts wieder auf. Die Verfolgungsjagd geht von vorne los. Sechs Kilometer lang. Wieder gelingt es den beiden, sie zum Anhalten zu zwingen. Der Beifahrer steigt aus. Diesmal schlägt er gegen ihr Autofenster, versucht, die Türen aufzureißen. Varnika hupt wie wild und tatsächlich trifft in letzter Sekunde die Polizei ein und verhaftet die beiden.
Endlich zu Hause, schreibt sie das alles auf Facebook. "Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich nicht vergewaltigt und ermordet irgendwo im Straßengraben liege." Leser beglückwünschen sie zu ihrem Mut. Doch das offizielle Indien hat seine ganz eigene Meinung dazu. Zu dem Vorfall interviewt, sagte Vizepräsident Ramveer Bhatti von der rechtskonservativen hinduistischen Regierungspartei BJP im Bundesstaat Haryana: "Warum hat man ihr erlaubt, in der Nacht allein hinauszugehen? Eltern sollten ihren Kindern nicht erlauben, so lange auszugehen!"
Eine unfassbare Antwort, bei der man angefangen von Täter-Opfer-Umkehr über die Klassifizierung einer 29-Jährigen als Kind bis hin zum nächtlichen Ausgangsverbot für Frauen gar nicht weiß, wo man beginnen soll, den Kopf zu schütteln? Sicherlich. Aber ist diese Meinung für Indien ungewöhnlich? Mitnichten. Nach wie vor herrscht unter vielen Indern die Ansicht, dass Frauen quasi Eigentum ihrer Männer oder Familien sind und nach Einbruch der Dunkelheit nichts allein auf der Straße verloren haben. Dass ein hoher Vertreter der Regierungspartei diese Position offiziell einnimmt, zeigt nur, dass diese System hat. Dementsprechend landet Indien auf dem UN-Gleichberechtigungsindex auch auf Platz 125 von 188. Und während die Zahl der Vergewaltigungsfälle über die Jahre konstant gestiegen ist, fällt gleichzeitig die Aufklärungsrate.
Doch indischen Frauen lassen sich das nicht gefallen. Varnika Kundas Fall hat eine Lawine von Protestkundgebungen losgetreten. Unter dem Titel #aintnocinderella ("Ich bin kein Aschenputtel") stellen seit Tagen abertausende Inderinnen Fotos von sich ins Internet, auf denen sie abends außer Haus und bei Partys zu sehen sind. Vielleicht kapiert ja der eine oder andere, dass es Zeit für ein Umdenken ist und dass sich die Inderinnen ihre grundrechtlich verankerte Freiheit nicht nehmen lassen.