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Indien steigt mit in den Ring

Von Veronika Eschbacher und Konstanze Walther

Politik

Wirtschaftliche Weiterentwicklung Indiens hängt auch am erfolgreichen Ausbau des Energiesektors.


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Neu Delhi. Der Hunger ist noch lange nicht gestillt, der Deal ist gerade mal der Anfang. Indiens staatliche Öl- und Gasgesellschaft ONGC kauft für rund 5 Milliarden US-Dollar Anteile an einem Ölprojekt im Kaspischen Meer. Dabei handle sich um die 8,4-prozentige Beteiligung des US-Konzerns ConocoPhillips am kasachischen Projekt Kashagan, wie ONGC am Dienstag in Neu Delhi mitteilte. Die erwarteten 20.000 Barrel (je 159 Liter) Öl pro Tag über die nächsten 25 Jahre sollen helfen, die Energieversorgung Indiens zu verbessern. Kashagan gilt als eines der weltweit größten Ölfelder, es wurde im Jahr 2000 entdeckt. Doch die Exploration des Feldes kam in den letzten Jahren ins Stocken, das Projekt hinkt acht Jahre hinter dem ursprünglichen Zeitplan her. ONGC gibt sich dennoch überzeugt, dass das Schlimmste beim Kashagan-Feld hinter sich gelassen werden konnte.

Der Deal ist für den indischen Riesen der bisher größte - im Ausland aber noch lange nicht der letzte. Bis 2030 will ONGC 198 Milliarden Dollar springen lassen, um im In- und Ausland die Produktion anzukurbeln. Im September kaufte ONGC um eine Milliarde Dollar 2,7 Prozent im größten Ölfeld Aserbaidschans inklusive dazugehöriger Pipeline.

Indien verschlang im Jahr 2011 täglich 3,5 Millionen Barrel Öl - nur die Giganten USA, Japan und China haben einen höheren Verbrauch. Bisher war China aggressiver im Zukaufen bei globalen Energieressourcen. Doch Indien scheint nun in den Ring zu steigen. Vielleicht weil es im Sommer ein spektakuläres Black-out bei der Stromversorgung gegeben hat. Die Produktion kam zum Erliegen, die Haushalte lagen zum Teil im Dunkeln. Wenngleich es manche nicht gemerkt haben: Mindestens ein Drittel der Bürger des bevölkerungsreichsten Landes (nach China) ist nicht an das Stromnetz angeschlossen. Die Haushalte verwenden Kerosinlampen zur Beleuchtung.

Bisher ist Indien vor allem von Kohle abhängig und bezieht weniger als drei Prozent des Stroms aus der Atomkraft. Bis 2050 will die Regierung die Zahl jedoch auf 25 Prozent steigern, indem 30 neue Reaktoren gebaut werden - ungeachtet kürzlicher Kritik des indischen Rechnungshofs an der fehlerhaften Wartung der bestehenden Reaktoren. Der indische Rechnungshof monierte zuletzt die fehlerhafte Wartung der bestehenden Reaktoren.

Politische Paralyse hemmt wirtschaftlichen Fortschritt

Neben der Suche nach Energiesicherheit steckt Indien inmitten einer Debatte um wichtige wirtschaftliche Reformen. Der andauernde politische Stillstand wirkt sich mittlerweile auch auf die Wirtschaftsentwicklung der drittgrößten Volkswirtschaft Asiens aus. Erstmals wurde für dieses Jahr die niedrigste Wachstumsprognose seit einem Jahrzehnt vom Internationalen Währungsfonds für das Land veranschlagt - magere 5 Prozent BIP-Wachstum. 2010 waren es 10 Prozent. Lord Meghnad Desai, ehemaliger Professor der London School of Economics, erwartet im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" jedoch, dass sich das Wachstum in etwa 20 Monaten wieder zu 7 Prozent zurückkehren wird. "Indien wächst immerhin noch schneller als Brasilien oder Russland", sagt Desai.

Der indisch-stämmige Ökonom sieht in vielen Feldern dringenden Handlungsbedarf. Zuallererst müsse der Supermarktsektor für ausländische Investitionen geöffnet werden. Die Debatte um die Öffnung zieht sich bereits seit Monaten und wird äußerst heftig geführt. Im September führte die Uneinigkeit in der Frage sogar dazu, dass die Koalition von Premierminister Manmohan Singh seine Parlamentsmehrheit verlor: Die Trinamool Congress Party zog sich aus der Koalition zurück, weil sie entgegen der Regierungslinie die Reform nicht unterstützt. Auch diese Woche blockierte die Opposition mit Protesten gegen die von vielen Seiten als "Leuchtturm"-Erneuerungsmaßnahme angesehene Reform die ersten drei Tage der einmonatigen Wintersitzung des Parlaments.

Einzelhändler mit Angst vor Supermarkt-Einzug

Reformkritiker führen an, dass dadurch die Existenzgrundlage von Millionen von indischen Geschäftsinhabern zerstört würde. Die Regierung hält dagegen, dass dieser Schritt Staatseinkünfte erhöhe und dazu beitragen würde, den chronischen Schwund von Lebensmitteln zu eliminieren, da ausländische Investitionen in den Aufbau richtiger Kühlketten und Transportinfrastruktur fließen würden. Auch hierfür braucht es ein stabiles Energienetz.

Ausländische Ketten wie Wal-Mart drängen in den 450 Milliarden US-Dollar schweren indischen Einzelhandelssektor. "Die Regierung wird sich zwar einem Vertrauensvotum stellen müssen, aber das wird sie gewinnen und das Gesetz durchgehen", lautet die Einschätzung Desais.

Ein großer Teil des Wachstums in Indien kam in den letzten Jahren durch den Ausbau des Dienstleistungssektors. Die Regierung versucht nun vermehrt, den Produktionssektor zu revolutionieren - nach Einschätzung von Desai jedoch mit falschen Mitteln. "Wenn man nicht die Kosten für die Einstellung und Kündigungen von Mitarbeitern ändert, wird man keinen Erfolg haben", sagt er. In der indischen Politik gäbe es keine Bereitwilligkeit, die Arbeitsgesetze zu lockern. "Ich denke, dass der Produktionssektor in Indien unter 20 Prozent des BIP bleiben wird und der Dienstleistungsbereich weiterhin anwächst."

Zum politischen Stillstand in der größten Demokratie der Welt gesellt sich als weiterer Hemmschuh für wirtschaftliche Entwicklung noch Korruption. "Indien war immer korrupt", sagt Desai. Das Bewusstsein der indischen Bürger für das Thema sei jedoch neu und zeige, dass sich Indien ändert. "Indien geht durch eine temporäre Krise aufgrund der politischen Ungewissheiten. Strukturell ist aber mit dem Land alles in Ordnung", sagt Desai, der trotz der momentanen Hürden erwartet, dass innerhalb der nächsten neun Monate die nötigen Reformen durch sind.