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Emanzipation der Frauen trifft auf männlichen Widerstand und Gewalt.
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New Delhi. "Glückliches 2013 an alle, doch lasst uns nicht vergessen, was 2012 passiert ist", mahnte Bollywood-Star Amitabh Bachchan seine Millionen Fans. Der indische Star-Schauspieler und seine Familie hatten ihre Silvester-Feier abgesagt - aus Respekt für die 23-jährige Studentin, die nach einer bestialischen Massenvergewaltigung in einem Bus in Neu Delhi gestorben war. Nicht nur Bollywood-Stars, auch viele Restaurants, Clubs, Hotels, die Armee, Privatleute und Politiker hatten ihre Parties in diesem Jahr abgesagt. Zudem entschlossen sich im ganzen Land viele Menschen, diesmal keine Kerzen auf Balkonen und Hausdächern anzuzünden oder Grundstücke mit bunten Lichterketten zu schmücken, wie es sonst zu Neujahr Sitte ist.
Und an der staubigen Bushaltestelle in Munirka, im Süden Neu Delhis, forderten Studenten der nahen Jawaharlal-Nehru-Universität erneut "Gerechtigkeit für das Löwenherz", wie die junge Frau inzwischen genannt wird. An dieser Stelle hatte die 23-jährige Medizinstudentin am Abend des 16. Dezember mit einem Freund den Bus bestiegen, in dem sie über eine Stunde lang grausam vergewaltigt und mit Eisenstangen traktiert wurde. Zwei Wochen später erlag sie ihren schweren inneren Verletzungen in einem Krankenhaus in Singapur.
Das Schicksal der jungen Frau aus bescheidenen Verhältnissen, deren Eltern ihr einziges Stück Land verkauft hatten, um der Tochter ein Studium und so ein besseres Leben zu ermöglichen, rüttelt das Land auf. Ihr Tod könnte einen Wendepunkt für Indien und sein bigottes Verhältnis zu Frauen markieren.
Zehntausende fordernmehr Schutz für Frauen
Zehntausende Menschen gingen im ganzen Land auf die Straße, um ihrem Ärger Luft zu machen und mehr Sicherheit für Frauen zu fordern. Indiens Regierung, die von den Massenprotesten kalt erwischt wurde, bemüht sich um Schadensbegrenzung: Die Tote wurde in einem gold-farbenen Sarg zurück nach Delhi geflogen, unter strengen Sicherheitsvorkehrungen kremiert und ihre Asche am Dienstag im Ganges-Fluss verstreut. In einer außergewöhnlichen Fernseh-Ansprache erklärte Sonia Gandhi, die mächtige Chefin der regierenden Kongress-Partei, sie verlange als "Mutter und Frau" eine Veränderung dieser "Haltung und Denkweise, die Männern erlaubt, mit solcher Ungestraftheit zu vergewaltigen".
Die Debatte hat viele Facetten. Indiens Wirtschaftswachstum hat im letzten Jahrzehnt zu einem enormen sozialen Wandel geführt. Millionen Menschen haben ihre Dörfer verlassen, um in den Städten ihr Glück zu suchen: Dabei trifft eine moderne Welt auf alte Werte und Normen.
Besonders sichtbar wird dieser Wandel bei der Stellung der Frauen: Sie drängen an die Universitäten und neue Arbeitsplätze in Restaurants, Shopping-Malls und Call-Center. Sie kleiden sich modern, treffen sich in Coffee-Shops und gehen ohne Aufsicht der Familie ins Kino oder einkaufen. Doch die neue Freiheit der Frauen trifft auch auf Widerstand und Gewalt. "Indien ist im Moment in einer Grauzone, wo die traditionellen sozialen Normen ihren Klang verloren haben, während moderne Werte, die auf der Freiheit des Individuums beruhen, noch keine Anerkennung gefunden haben", analysiert die Wirtschaftszeitung "Mint".
Passanten haben gegafft, anstatt zu helfen
Die vergewaltigte Studentin, deren Name nicht publik gemacht wurde, war in Begleitung ihres 28-jährigen Freundes. Nach einem Kinobesuch gingen die beiden zu der Bushaltestelle in Munirka, die zwischen einem Slum und einem neu entstandenen Shopping-Komplex liegt. Doch Delhis öffentlicher Verkehr ist schlecht, unsicher und zudem unkalkulierbar.
Nachdem das Paar eine Weile gewartet hatte, hielt ein weißer Bus mit verdunkelten Scheiben. "Wir fahren nach Dwarka und können euch mitnehmen", bot der Busfahrer Ram Singh an. Nachdem das Fahrzeug sich in Bewegung gesetzt hatte, stürzten sich sechs Männer auf die junge Studentin und vergewaltigten und folterten sie mit Eisenstangen, sodass ihr Darm und andere innere Organe zerfetzt wurden. Ihr Begleiter, der das Mädchen schützen wollte, wurde ebenfalls brutal zusammengeschlagen. An einer Hochstraße in Mahipalpur, unweit vom internationalen Flughafen, wurden beide achtlos aus dem Bus geworfen.
Doch auch dann kam keine Hilfe: Eine Gruppe Gaffer versammelte sich um die Schwerverletzten, ohne etwas zu unternehmen. Die Polizei brauchte 40 Minuten, um aus einem nahen Hotel Decken zu beschaffen und die beiden ins Krankenhaus zu bringen. Die junge Frau hatte inzwischen fast einen Liter Blut verloren. Die Ärzte im staatlichen Safdarjung-Krankenhaus, die die Studentin dreimal notoperierten, erklärten, so einen schlimmen Fall hätten sie noch nie gesehen.
Sexuelle Übergriffe sind in Indien an der Tagesordnung: Gerne als "Eve-Teasing" (Eva ärgern) verharmlost, wird die Schuld dabei meist bei den Frauen gesucht. Als der Bundesstaat Haryana vor ein paar Monaten eine außergewöhnliche Welle von Vergewaltigungen erlebte, schlug der frühere Ministerpräsident der Region Om Prakash Chautala vor, das Heiratsalter für Mädchen auf 15 Jahre zu reduzieren, um "sie vor solchen Grausamkeiten zu schützen." Andere Politiker machten westlichen "Fast-Food-Konsum" und das Internet für den Verfall der Sitten verantwortlich oder deuteten an, bei den meisten Vergewaltigungen handle es sich in Wirklichkeit um eine einvernehmliche Liebesbeziehung. Frauen, die eine Vergewaltigung anzeigen, werden teils einem "medizinischen" Test unterzogen, der feststellen soll, ob das Opfer vor der Tat noch Jungfrau war.
Männer werden vielerorts wie kleine Götter verehrt
Es gibt genügend erfolgreiche Frauen in Indien: Das Land hat mächtige Politikerinnen wie Sonia Gandhi, die Chefin der Kongress-Partei oder deren verstorbene Schwiegermutter, Indira Gandhi, eine der ersten weiblichen Regierungschefs, hervorgebracht. Es hat Unternehmerinnen, Schriftstellerinnen, Nobelpreisträgerinnen und Pilotinnen - doch all dies steht im Kontrast zu einem Indien, das Frauen hasst und Männer wie kleine Götter verehrt. Weibliche Embryonen werden abgetrieben, Mädchen gleich nach der Geburt umgebracht. Die Geschlechterverteilung im Lande ist eine der unausgeglichensten der Welt. Frauen drohen Mitgiftmord, Witwenverbrennung, "Ehrenmord" durch die Familie, Säure-Attentate und Zwangsverheiratung. Sie sind zudem schlechter ernährt als Männer, bekommen weniger Medizin und ärztliche Behandlung.
Die Verherrlichung von Gewalt gegen Frauen reicht weit: Kaum ein Bollywood-Film kommt ohne eine packende Vergewaltigungsszene aus - während Leinwandküsse als Zeichen der Liebe als anstößig gelten und der Zensur zum Opfer fallen. Und Sita, die berühmte weibliche Sagengestalt aus der Ramayana, dem wichtigsten Heldenepos des Landes, wird in ihrer Rolle als Opfer verehrt, das sich bereitwillig in die Flammen stürzt, um ihrem Ehemann ihre Keuschheit zu beweisen.
Doch der Massenprotest der letzten zwei Wochen in Indien zeigt, dass gegen diese Opferrolle der Frauen aufbegehrt wird. Zwar rückte der Sohn des indischen Präsidenten, Abhijit Mukherjee, die demonstrierenden Frauen in die Nähe von Prostituierten. Später musste der Parlamentsabgeordnete jedoch zurückrudern und sich für seine Äußerung entschuldigen.
Den Vergewaltigerndroht die Todesstrafe
Am Wochenende verhaftete die Polizei zudem sechs Verdächtige, die die Medizinstudentin vergewaltigt haben sollen. Einer von ihnen soll jünger als 18 Jahre alt sein. Die Männer sollen wegen Mordes angeklagt werden. Politiker deuteten an, die Männer könne die Todesstrafe erwarten, wohl auch um den Ruf der Bevölkerung nach härteren Strafen für Vergewaltiger entgegenzukommen. Ach eine Kastration von Sexualstraftätern wird inzwischen diskutiert. Die Familie der jungen Frau hat bereits erklärt, sie wolle die Täter am Galgen hängen sehen.
Doch der Ärger über die Politiker ist noch immer groß: So herrschte in den vergangen Tagen große Aufregung darüber, dass die Parteien bei den letzten Wahlen 27 Kandidaten aufgestellt haben, die wegen Vergewaltigung angeklagt wurden und unzählige mehr, denen sexuelle Belästigung und Gewalt gegen Frauen vorgeworfen wird.