Laut nationalem Strafregister wird alle 20 Minuten eine Inderin vergewaltigt. Die patriarchalen Vorstellungen im Land ändern sich nur langsam.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Nur selten schafft es Indien in die Schlagzeilen europäischer Medien. Meist sind es Naturkatastrophen, die die Weltöffentlichkeit auf die - glaubt man den Worten des US-Journalisten Farid Zakaria - aufstrebende Supermacht aufmerksam machen. Die Massenvergewaltigung einer 23-jährigen Studentin im Dezember 2012 hat die Welt erschüttert und empört. Die Proteste in den Straßen Neu Delhis gehen weiter, und den Frauen und Studenten gelingt es nun, sich erstmals Gehör zu verschaffen.
Auf dem Prüfstand steht seit dieser grausamen Tat nicht bloß die Effizienz eines maroden Rechtssystems im Staat mit der weltweit zweithöchsten Bevölkerungsanzahl, sondern auch die Frage nach der Behandlung von Frauen in einem Gesellschaftssystem, das scheinbar wenig Flexibilität und Hoffnung auf raschen Wandel zulässt. Während die Behörden versuchen, die Volljährigkeit des sechsten Vergewaltigers zu klären und den anderen fünf Tätern die Todesstrafe droht, sorgt ein neuer Skandal für Aufsehen: Yogesh Attray, dem ehemaligen Anführer der hindu-nationalistischen Volkspartei BJP, wird laut einem Bericht der "Hindustan Times" vorgeworfen, eine Frau in Neu Delhi vergewaltigt zu haben. Laut Einträgen im nationalen Strafregister wird alle 20 Minuten eine Frau in Indien Opfer einer Vergewaltigung. Obwohl Frauenrechtsorganisationen betonen, dass diese Verbrechen weltweit täglich passieren, kritisieren sie den Umgang der Behörden mit Opfern und Zeugen als symptomatisch für eine Gesellschaft, die Frauen nur wenige Rechte einräumt. Indira Gandhi, Sonia Gandhi und Pratibha Patil, Indiens erste Präsidentin, sind der größten Demokratie gewiss mit gutem Beispiel vorangegangen. Sie dienen zahlreichen Frauen in einer Gesellschaft als Vorbild, durch die sich das Kastenwesen trotz ökonomischem Aufschwung und zunehmender Globalisierung wie ein Nerv zieht. Dass sich patriarchale Vorstellungen allerdings selbst in den höchsten Gesellschaftsschichten und Kasten nur langsam ändern, zeigen die abwertenden Aussagen des Präsidentensohnes Pranab Mukherjee, der den Demonstrantinnen kurz nach der Massenvergewaltigung unter anderem "Realitätsferne" vorwarf. Anstatt sich Genugtuung für die grausame Tat durch die Verhängung der Todesstrafe zu erhoffen, muss man in Indien endlich beginnen, neben der physischen auch die strukturelle Gewalt an Frauen und anderen unterdrückten Minderheiten, die zumeist gesellschaftlich oder religiös legitimiert wird, zu bekämpfen.
Positiver Wandel kann sich nur dann vollziehen, wenn als selbstverständlich verstandene Hierarchien von innen angefochten werden. Die Protestbewegungen in Indien sind ein erstes Anzeichen hierfür, die hoffentlich auch positive rechtliche und soziale Veränderungen mit sich bringen werden. Die indische Rechtsprofessorin Ratna Kapur trifft mit ihrem Statement den Nagel auf den Kopf: "Es ist Zeit für uns, zu erkennen, wie wir als Gesellschaft Individuen erschaffen, die solche Verbrechen verüben, und dann damit zu beginnen, Verantwortung hierfür zu übernehmen."