Vermutlich wird sich das Ergebnis der Verhandlungen zwischen den Briten und der EU irgendwo zwischen zwei Polen bewegen.
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Noch hat Großbritannien den offiziellen Antrag zum Ausscheiden aus der Europäischen Union nicht gestellt. Dennoch sollte die europäische Industrie davon ausgehen, dass es dazu kommen wird, und sich entsprechend darauf einstellen.
Der Brexit hat viele Facetten. Als größter österreichischer Industrieberater steht natürlich die Frage im Vordergrund, was der EU-Austritt der Briten hierzulande und jenseits des Ärmelkanals für die produzierenden Betriebe bedeutet. Zunächst ist festzustellen, dass Großbritannien die Industrie in den vergangenen Jahrzehnten zugunsten der Finanzwirtschaft vernachlässigt hat. Der Anteil der Industrie am BIP beträgt im Vereinigten Königreich nur 13 Prozent mit 2,6 Millionen Beschäftigten - zum Vergleich: In Österreich liegt der Anteil bei 20 Prozent.
Viel hängt auch davon ab, wie die Verhandlungen verlaufen. Vermutlich wird sich das Ergebnis irgendwo zwischen zwei Polen bewegen. Das eine Extrem ist eine norwegische Lösung: Großbritannien zahlt einen Mitgliedsbeitrag in gleicher Höhe wie bisher, ohne mitentscheiden zu können, bekommt dafür aber freien Zugang zu den europäischen Märkten und akzeptiert alle Regeln der EU, die aber eben nicht mehr mitbestimmt werden können. Wenn man den Pressemeldungen im Vereinigten Königreich glauben schenken kann, dann ist diese norwegische Lösung für die Briten undenkbar, stattdessen wird eine Vereinbarung nach dem Kanada-Modell angestrebt.
Am anderen Ende der Möglichkeiten liegt ein harter Schnitt mit weitgehender Abschottung gegenüber dem Kontinent. Die Finanzindustrie würde darauf wohl mit partieller Abwanderung reagieren, die produzierende Industrie dagegen würde zur Deckung des nationalen Bedarfs in Richtung 20-Prozent-Anteil am BIP ausgebaut. Für Unternehmen, die nicht vor Ort aktiv sind, hätte ein solcher harter Brexit erhebliche Auswirkungen.
Stärkung der Binnenproduktion
Einiges spricht dafür, dass die britische Regierung eine Stärkung der Binnenproduktion anstrebt und den lange Zeit vernachlässigten Industriestandort wieder attraktiver machen will. Für Aufsehen hat bereits gesorgt, dass die Unternehmenssteuern auch weiterhin massiv gesenkt werden sollen. Ein Drehen an der Steuerschraube und erhöhte Staatsausgaben deuten darauf hin, dass Großbritannien einen weiter sinkenden Kurs des Pfundes anpeilt. Das würde Importe und Auslandsurlaube verteuern, Exporte aber verbilligen.
Beides hat natürlich massive realwirtschaftliche Auswirkungen. Sehen wir uns zunächst die österreichische Seite an: Großbritannien ist Österreichs achtwichtigster Exportmarkt. Im vergangenen Jahr war die Handelsbilanz zugunsten Österreichs bei einem Gesamtvolumen von 4,2 Milliarden Euro mit 1,7 Milliarden Euro im Plus. In Summe wären leichte Rückgänge also verkraftbar. Dennoch gibt es aus der Sicht der heimischen Industrie natürlich ein vitales Interesse, dass die Brexit-Verhandlungen so verlaufen, dass die Außenwirtschaftsbeziehungen nicht behindert werden.
In Großbritannien wird die Hälfte des Außenhandels mit der EU abwickelt. Massive Handelshemmnisse wären hier letal. Das ist auch der Grund dafür, dass der Präsident des britischen Unternehmensverbands CBI jüngst für längere Übergangsfristen plädiert hat, weil sonst die Industrie "über eine Klippe" stürzen würde.
Steuerwettbewerb könnte positiv für die Industrie sein
Ein in den vergangenen Tagen heiß diskutiertes Thema ist der sich abzeichnende Steuerwettbewerb. Großbritannien ist sich offenbar bewusst, dass massive nachhaltige Probleme im eigenen Land durch Abwanderung von Unternehmen und Verlagerung von Investitionen in die EU nur dann verhindert werden können, wenn die Besteuerung von Unternehmensgewinnen massiv gesenkt wird. Obwohl die Besteuerung schon jetzt weit niedriger als im Hochsteuerland Österreich liegt, will die britische Regierung offenbar einen massiven Wettbewerb starten, der zu Lasten der Staatsverschuldung gehen wird.
Aus Sicht der österreichischen Industrie wäre es erfreulich, wenn der britische Druck auf die Unternehmenssteuern unseren Finanzminister dazu zwingen würde, ebenfalls die Gewinnbesteuerung zu reduzieren und an der Schraube der Lohnnebenkosten zu drehen. Der Brexit als Turbo für den Reformstau in Österreich wäre ein erfreuliches Nebenprodukt für die gesamte Industrie.
Immunisieren durch Effizienzsteigerung
Abseits aller makroökonomischen Themen, die derzeit die Diskussionen beherrschen, erwarten wir als Industrieberater mit Standorten in der EU (Wien und München) sowie Großbritannien (Milton Keynes), dass auf der Insel wie auf dem Kontinent die Wirtschaft sich intensiv mit der eigenen Effizienz auseinandersetzen wird müssen. Gegen die tektonischen Verwerfungen, die der Brexit zwangsläufig mit sich bringen wird, können sich die Unternehmen nur wappnen, wenn sie sich selbst intensiv vorbereiten.
Dazu gehört, bei einem sich verändernden Markt- und Wettbewerbsumfeld die gesamte Prozesskette vom Einkauf über die Herstellung bis hin zu Administration und Vertrieb genauestens unter die Lupe zu nehmen. Das insbesondere für Unternehmen, die bereits jetzt mit den Briten im Wirtschaftsverkehr - als Lieferanten oder als Einkäufer - in Verbindung stehen. Fatal wäre es, zu lange in Warteposition zu verharren. Die Hoffnung, alles werde nicht so schlimm kommen wie befürchtet, stirbt meist zuerst.